Zwischen uralten Langlaufskiern, einem Spinnrad, Ersatzziegeln und Christbaumschmuck macht Moritz Kirsch nach dem Tod seiner Mutter 2013 auf dem Estrich in ihrem Haus im norddeutschen Tielenhemme eine Entdeckung: Unter zwei alten Koffern aus der DDR vergraben liegt ein verstaubter Karton mit zwei Mappen. Sie sind beschriftet mit «Gedichte» und «Kleine Prosa» und enthalten einige unveröffentlichte Werke von Sarah Kirsch. Die Entscheidung, welche zur Veröffentlichung bestimmt sind, fällt ihm dank den handschriftlichen Kommentaren seiner Mutter leichter.
Politische Gedichte aus DDR-Zeiten
Der neu erschienene Band «Freie Verse» versammelt 19 dieser unbekannten Werke zusammen mit 80 bereits veröffentlichten Gedichten von Sarah Kirsch (1935–2013). Die studierte Biologin, Autorin und Malerin lebte im Osten Berlins. Weil sie 1976 als eine der ersten die Petition gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann unterzeichnete, wurde sie aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) sowie dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen und durch das «Ministerium für Staatssicherheit» überwacht. 1977 wurde ihr Ausreiseantrag nach West-Berlin genehmigt. Sechs Jahre später zog sie mit ihrem damaligen Lebensgefährten, dem Komponisten Wolfgang von Schweinitz, und ihrem Sohn in ein verwunschenes ehemaliges Schulhaus in Tielenhemme in Schleswig-Holstein, wo sie mit allerlei Tieren bis zu ihrem Tod lebte.
Die bisher unbekannten Gedichte stammen aus DDR-Zeiten und wurden damals vermutlich aus politischen Gründen nicht veröffentlicht, wie Moritz Kirsch im Nachwort schreibt. Sarah Kirsch war zwar politisch engagiert, als Schriftstellerin wurde sie aber oft als Naturlyrikerin wahrgenommen. In ihren Gedichten kontrastieren Naturwahrnehmung und Gesellschaftskritik. Mit der Auswahl im Band «Freie Verse» wollte ihr Sohn nun die «dezidiert politischen Gedichte» versammeln. So heisst es im Gedicht «Astronomie im Dezember» von 1976, dem Jahr ihres Ausschlusses aus der SED, etwa:
«Hier trompeten die Schwäne. Meine / Staatsbürgerliche Lochkarte ach was / Ist sie zerschlissen durch- / Schossen: ein vielfältiger / Sternhimmel an Verfehlungen itzt.»
Unmissverständlich ist auch das undatierte Gedicht
«Trennung»:
«Wenn ich in einem Haus bin,
das keine Tür hat / Geh ich
aus dem Fenster. / Mauern,
Mauern und nichts als
Gardinen / Wo bin ich denn, dass»
«Freie Verse» heisst der Band auch in Bezug auf Kirschs Sprache. In den eigensinnigen Versen und abrupten Zeilensprüngen zeigte sie sich experimentierfreudig und frei von Reimzwängen. 1996 erhielt sie für ihr Werk den renommierten Georg-Büchner-Preis. «Weshalb ich schreibe, weshalb ich lebe, fällt oftmals zusammen», schrieb die Lyrikerin einst. «Ich schreibe, weil ich herausfinden will, was ich hier soll.» Und von dieser Suche nach einem Platz in der Gesellschaft erzählen unter anderem auch ihre Gedichte.
Buch
Sarah Kirsch
Freie Verse
Hg. Moritz Kirsch
128 Seiten
(Manesse 2020)