Die junge Landtochter Paraschka erinnert sich an die erste flüchtige Begegnung mit ihrem späteren Liebhaber, dem Kleinbürger Nikan: «Sein von bläulichen, pickeligen Pünktchen wie mit Schiesspulver übersätes Gesicht und die spärlichen, drahtigen Haare, die sich auf seinen Backenknochen ringelten …» Der Leser ahnt, dass von so einem Kerl wenig Gutes zu erwarten ist.
Das ist eine Charakterbeschreibung aus der Erzählung «An der Landstrasse» des russischen Schriftstellers Iwan Alexejewitsch Bunin (1870–1953). Er erzählt darin die Geschichte der Tochter eines Geldverleihers auf dem Land, die in ihrer Einsamkeit mit den Gefühlen einer Heranwachsenden nicht zurechtkommt.
Trotz Nobelpreis in Vergessenheit geraten
Iwan wer? Der Autor ist heute im Westen beinahe in Vergessenheit geraten, dabei erhielt er 1933 als erster Russe den Nobelpreis für Literatur. Bunin sah sich in der Tradition der grossen Literaten des 19. Jahrhunderts, wie Lew Graf Tolstoi, Anton Tschechow oder Maxim Gorki. Der Dörlemann-Verlag erinnert nun mit einem Erzählband unter dem Titel «Frühling» an Bunin, der das Leben in der russischen Provinz mit scharfem Auge und emotionaler, wenn auch distanzierter Anteilnahme beschrieb.
«Bunins Erzählungen sind auf Menschen und ihre Schickale ausgerichtet; es sind ganze Welten, in die man sinnlich eintaucht, und oft wundert man sich, wie eine solche Intensität der Bilder auf so kleinem Raum möglich ist.» Das schreibt der renommierte Basler Slawist Thomas Grob, der das Buch herausgegeben hat. Es enthält 14 teilweise sehr kurze Erzählungen aus dem Jahr 1913, die vereinzelt erstmals auf Deutsch erscheinen.
Iwan Bunin entstammte der verarmten Offizierskaste im zaristischen Russland, konnte aber dennoch ein Gymnasium besuchen. Er heiratete 1891 und wurde Verwaltungsangestellter in Westrussland. Noch vor dem Ersten Weltkrieg ging er auf Reisen nach Nordafrika, Asien und in den Nahen Osten.
Bunin lehnte die Oktoberrevolution 1917 ab und zog notgedrungen ein Leben im französischen Exil vor. Er verachtete die Revolutionäre, wie er in einem Essay schrieb: «In Moskau war schon kein Leben mehr, obwohl die neuen Machthaber eine in ihrer Stupidität und grossen Eile irrwitzige Imitation einer angeblich neuen Ordnung des Lebens darboten.»
Verzerrte Wahrnehmungen der Wirklichkeit
Bunins Erzählungen im Band «Frühling» sind dann am spannendsten, wenn er sich an das Unerklärliche heranwagt, wenn die Wahrnehmung die Wirklichkeit verzerrt, wie etwa in der Kurzgeschichte «Der Prophet Elias». So erlebte der Dorfbewohner Semjon Nowikow eines Nachts eine fürchterliche Vision: «In der Ferne zeichnete sich vor der Wolkenwand eine kleine Schar ab, die sich auf Semjon zubewegte, mit entblössten Häuptern, weiss gegürtet, in neuen Halbpelzen – mühsam trugen sie eine riesige, nach alter Tradition gemalte Altar-Ikone.» Träumt Semjon oder erlebt er eine göttliche Vision? Der Leser ist lange im Ungewissen, und er fühlt sich erlöst, als sich die Geschichte zum Guten wendet. Bunin war keineswegs im traditionellen Verständnis der russischen Kirche gläubig; ihn faszinierten vielmehr alle religiösen Ansätze der damaligen Zeit, die er zum Teil in seine Geschichten einfliessen liess.
Buch
Iwan Bunin
«Frühling» 287 Seiten Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg (Dörlemann 2016).
Lesung
Dorothea Trottenberg, Thomas Grob: Iwan Bunin – Wiederentdeckung eines russischen Klassikers
Di, 10.1., 19.00 Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg