«Der Abschied von Europa schien mir immer eine grosse und in der einen oder anderen Weise entscheidende Stunde zu sein. Manchmal war es ein Fest des Aufbruchs, ich war entschlossen alles hinter mir zu lassen (…). Manchmal war es ein Angsttraum. Ich wollte (…), kurz vor der Grenze, noch umkehren.» Das schrieb die Schweizer Schriftstellerin und Journalistin Annemarie Schwarzenbach im Jahr 1941 auf dem Weg nach Afrika. Zeitlebens war sie unterwegs, die promovierte Historikerin, die 1908 in Zürich geboren worden war.
Getrieben von der Suche nach sich selbst
Sie galt als ein privilegiertes Kind; der Vater war Seidenfabrikant, die Mutter stammte aus deutschem Adel. Ihr Studium brachte Annemarie Schwarzenbach bereits von Zürich nach Paris, dann liess sie sich mit 23 Jahren für zwei Jahre in Berlin nieder. Getrieben von der Suche nach sich selbst, schrieb sie 1933 an den Schweizer Diplomaten und Essayisten Carl Jacob Burckhardt: «Ich glaube, dass es für einen Menschen, der mit sich noch nicht fertig ist, gut sein wird, Europa und seinen entsetzlich quälenden Geschehnissen einmal aus dem Wege zu gehen – die Archäologie bietet mir dazu den Anlass.»
Schriebs, und weg war sie. Vom äusseren Osten bis tief in den Westen, von Nord nach Süd: Schwarzenbach reiste von der Türkei über Nahost bis nach Russland, nach Afrika und in die Vereinigten Staaten. Der vorliegende Band enthält Schilderungen, Notizen und Gedanken, welche die Autorin während der wichtigsten Reisen zwischen 1932 und 1942 niedergeschrieben hat. Sie lassen den Leser etwa Land und Leute im Orient kennenlernen, wie es heute in den vom Krieg gezeichneten Ländern kaum mehr möglich ist.
Die zum Teil unveröffentlichten Textausschnitte hat der Publizist Roger Perret («Moderne Poesie in der Schweiz», 2013) in einzigartiger Form im Lenos-Verlag herausgegeben: Das Unterwegssein gibt die Struktur vor. Das Weggehen, das Suchen, Finden und Entdecken werden zu einer eindrücklichen Collage eines Lebens, das mit der Rückkehr nach Hause endet. «Und dann – endlich die Schweiz, die Freunde, die Heimat, Sils. Sie wissen nicht, wie ich mich danach sehne, nach soviel Fremde im äussersten Sinn», schrieb sie im April 1942 an eine Freundin. Ein halbes Jahr später war Annemarie Schwarzenbach tot. Sie erlag – erst 34-jährig – den Verletzungen eines Velounfalls.
Annemarie Schwarzenbach
«An den äussersten
Flüssen des Paradieses»
Hg.: Roger Perret
416 Seiten(Lenos 2016).
Auszüge aus dem Reisetagebuch:
Syrien, 1933–1934
Ganz Palmyra lag (…) unter einem weissen glänzenden Licht, und man sah die Stadt und das Ruinengebiet und die leere Sandfläche dazwischen fast wie eine Luftspiegelung in dem tödlich weissen Himmel. Die Säulenreihen schienen mit ihren leichten Kapitellen und den unsichtbaren Basen zu schweben, und man erwartete jeden Augenblick, dass die zarten Schäfte sich in den Hitzewellen brechen würden.
Irak/Iran, 1935 (Grenzübertritt)
Am stärksten ist nicht der Zauber von Tausendundeiner Nacht, von exotischen Städten, Tempeln und Gärten, sondern die von Winden und wechselndem Licht belebte Öde der kahlen Hochebenen und Gebirgszüge «am Rande der Welt». Es ist ihre Grösse, die uns so rätselhaft anzieht und uns gleichzeitig mit lustloser Furcht erfüllt.
Afghanistan, 1939/40 (Grenzübertritt Iran)
Dieses ferne Land, Afghanistan, hatte uns so unwiderstehlich angezogen, nicht einer romantischen Vorstellung wegen, sondern weil wir, europäische Menschen, das Märchen verstanden hatten von einem der auszog, das Fürchten zu lernen.
Konnte man ihnen trauen, diesen Wegweisern ohne Weg? Und den drei Burschen, welche, in flatterndem Weiss und bis zu den starken, schimmernden Zähnen bewaffnet, aus dem Mondnebel und der Wüstennacht aufgetaucht waren? «Sie haben keine bösen Absichten», murmelten wir einander zu, während der Motor mit einer letzten Fehlexplosion erlosch und der Wagen stillstand …