Prophetische Worte in unsicheren Zeiten: «Warte nur ab, der Zar kommt auch noch dran.» Ein unbekannter «Jemand» ruft dies seinen Landsleuten in der russischen Provinz zu. Er warnt vor dem anstehenden Umbruch, den der Erste Weltkrieg mit sich zu bringen droht. Der russische Schriftsteller Iwan Bunin (1870–1953) beschreibt in der Erzählung «Der letzte Frühling» mit diesen Worten, wie der Krieg fernab der Front in der ländlichen Bevölkerung des zaristischen Reichs angekommen ist. Gemäss seinen Aufzeichnungen hatte er diese Geschichte 1916 geschrieben, also zwei Jahre vor der Ermordung des Zaren.
Die Umwälzungen in der Heimat lehnte Bunin ab
Die Erzählung ist im neuen Band «Leichter Atem» nachzulesen. Der Basler Slawistik-Dozent Thomas Grob hat darin 18 Geschichten aus den Jahren 1916 bis 1919 für den Dörlemann Verlag zusammengestellt. Er gibt das Gesamtwerk des Schriftstellers seit einigen Jahren in Etappen neu heraus.
Bunin lebte bis 1920 in Russland, musste indes nach der Machtetablierung der Bolschewiken wie viele seiner Landsleute nach Frankreich fliehen, wo er sich im südlichen Grasse niederliess. 1933 erhielt er als erster Russe den Literaturnobelpreis, der seine materiellen Nöte für eine Weile linderte. Bunin erkannte, wie morsch die alte russische Ordnung geworden war. Er wusste auch um die Sinnlosigkeit des Kriegs gegen die Deutschen und die Österreicher, unter dem die Zivilbevölkerung fernab der Front litt. Er lehnte dagegen die Umwälzungen unter der Führung der Bolschewiken ab, wie der fiktive Disput «Der Streit» in dem Band belegt. Der eine Protagonist steht für die Zukurzgekommenen, der andere, «ein Herr», klammert sich verzweifelt an die untergegangene Welt. Trotz allen Gegensätzen finden sich die beiden in ihrer Abscheu für die Revolutionäre: «Für keinen goldenen Palast in der Welt gehe ich unter deinen Wanka-Staat», sagt der Landarbeiter. Laut den Anmerkungen des Herausgebers steht «Wanka» (Verkleinerungsform von Ivan) für die «unterste soziale Schicht vornehmlich der städtischen Gesellschaft und damit für die neue Macht». Und von dieser will der Herr selbstredend ebenfalls nichts wissen.
Andere Geschichten sind märchenhafter. Dazu gehört «Gotami». Sie handelt von einer Frau im Himalaja, «schlicht von Gemüt und anspruchslos», die ihre Mitmenschen «Gotami, die Dürre» nannten. Sie weckte indes die Aufmerksamkeit des «Herrschersohns», mit dem sie bald ein Kind hatte. Er verlor das Interesse an ihr, liess sie jedoch in der Sicherheit des Palastes leben, auch wenn diese trügerisch war: «Selig sind die, die demütigen Herzens sind und die Fesseln gelöst haben», lässt Bunin seine Leserschaft wissen.
Geschichten wie diese berühren bis heute. So auch die titelgebende Erzählung «Leichter Atem». Im Mittelpunkt steht ein frühreifes Mädchen, das sich mit einem älteren Offizier einlässt und den gesellschaftlichen wie den emotionalen Folgen nicht gewachsen ist. Sie büsst mit ihrem Leben, wie der Leser gleich zu Beginn weiss, wenn von «einem neuen Kreuz aus Eiche» auf einem Friedhof die Rede ist. Ein wunderbar emotionaler Einstieg, sodass man über die angekündigte Tragödie sogleich mehr erfahren möchte.
Buch
Iwan Bunin
Leichter Atem – Erzählungen 1916–1919
Hg. Thomas Grob
288 Seiten
(Dörlemann 2020)