Gottfried Kellers Debütroman von 1854 war lange kein Erfolg beschieden: Bloss 900 Exemplare des «Grünen Heinrich» verkauften sich innerhalb von 20 Jahren. Kellers Zeitgenossen verschmähten den «kleinen, traurigen Roman», wie Keller sein Werk selbst bezeichnete. Doch der «Grüne Heinrich» liess ihn über die Jahrzehnte nicht los, und so schrieb er schliesslich eine zweite, komplett überarbeitete Fassung. Heute gehört der Künstler- und Entwicklungsroman zu einem der bedeutendsten Werke der deutschen Literatur – und der Vergleich der beiden Fassungen gibt einen spannenden Einblick in Kellers Schreiben.
Eine gescheiterte Malerexistenz
Im Mittelpunkt der autobiografisch geprägten Geschichte steht ein junger Künstler, der aufgrund seiner Kleidung «der grüne Heinrich» genannt wird. Er verlässt seinen Heimatort Zürich, um in der Ferne seinen Lebenstraum zu verwirklichen: Doch er hat als Maler keinen Erfolg, lässt sich von der Mutter finanzieren und kehrt um viele Erfahrungen reicher, aber als gescheiterte Existenz zurück. Auch Gottfried Keller (1819–1890) scheiterte als Maler und kam verschuldet aus München nach Zürich zurück. Eine bürgerliche Existenz baute er sich erst auf, als er 1861 zum Ersten Staatsschreiber des Kantons Zürich berufen wurde.
Sein Schreiben war stets von Zweifeln geprägt. Das letzte Kapitel der ersten Heinrich-Fassung hat er «buchstäblich unter Tränen geschmiert», wie Keller in einem Brief schrieb. Erst 25 Jahre nach Publikation der ersten Fassung erschien das überarbeitete, wiederum aus vier Bänden bestehende Werk 1879/80. Aus der «zypressendunklen» Fassung war ein anderes Buch entstanden: Die zeitkritischen Passagen hatte er gekürzt, die vermeintlich anstössigen erotischen Szenen gestrichen, den düsteren Schluss in ein versöhnliches Ende verwandelt. Die Geschichte erzählt er nun chronologisch und durchgehend aus der Ich-Perspektive. Die Literaturkritik stritt sich indes, welche Fassung die bessere war. Keller, der mit der ersten Fassung unzufrieden gewesen war, vermerkte 1880 in einem Brief resigniert: «Es ist ungefähr die Situation, wie wenn man im Garten einen alten Mops begräbt und es kommen nächtlicher Weise die Nachbarn, graben ihn wieder heraus und legen das arme Scheusal einem vor die Haustüre.»
Ausstellung über Kellers literarische Fantasien
Heute sind beide Fassungen erhältlich, und «Der grüne Heinrich» ist wie der Novellenzyklus «Die Leute von Seldwyla» zum Klassiker geworden. In diesem Jahr jährt sich Kellers Geburtstag zum 200. Mal – zusammen mit dem Geburtstag des Politikers und Unternehmers Alfred Escher. Zu Ehren der beiden Zürcher Persönlichkeiten finden in der Schweiz zahlreiche Veranstaltungen statt. Eine Ausstellung im Zürcher Strauhof geht Kellers literarischem Schaffen nach und zeigt, wie Traum und Fantasie seine Werke beeinflussten. Mit Originaldokumenten, Zitaten und Bildern, Audio- und Videostationen wird sein Weg von der romantischen Epoche bis zum Realismus nachgezeichnet.
Ausstellung
Gottfried Keller – Der träumende Realist
Fr, 1.3.–So, 26.5., Strauhof Zürich
Vortrag
«Phantasie, die auch im Schlafe wirtschaftet» – Keller und der Traum
Referat von Michael Andermatt, Professor Universität Zürich
Do, 21.2., 18.15 Universität Zürich (KO 2, Raum F-180)
Weitere Referate zur Ringvorlesung «Keller im Kontext»: Jeweils Donnerstag (bis Do, 16.5.)
Theater
Gottfried Keller – Wirr und wunderlich ist unser Leben
Autobiografisches aus «Der grüne Heinrich» mit Vera Bauer (Rezita-tion, Violoncello) und David Gold-zycher (Violine)
Sa, 9.3., 20.15 Kellertheater La Marotte Affoltern am Albis ZH
Buch
Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Erstausgabe
1. Fassung: 1854/55
2. Fassung: 1879/80
Heute erhältlich bei Suhrkamp (1. Fassung) oder Diogenes (2. Fassung)