Der zehnjährige Yusuf wird 1903 durch schreckliche Umstände zum Vollwaisen. Banditen überfallen das Haus seiner Eltern und töten sie. Yusuf überlebt und wird von einer Gruppe von Ärzten und Beamten am Unglücksort gefunden. Was die Männer am meisten entsetzt, sind nicht die Toten. «Es war vielmehr der Anblick eines kleinen Jungen, der mit angezogenen Knien in einer Ecke der Sitzbank kauerte und sie mit einem starren und gleichmütigen Blick ansah.» Landrat Salahattin Bey erbarmt sich des Jungen und nimmt ihn auf. Ganz zum Missfallen seiner Frau.
Fremd in der Familie
Mit dieser Ehe steht es nicht zum Besten. Wie so viele Männer in jener Zeit hatte der 35-jährige Landrat «nach wilden und ausschweifenden Jugendjahren plötzlich gemerkt, dass er müde war und seine Kräfte nachliessen». Deshalb hatte er ein Mädchen geheiratet, das 15 Jahre jünger war als er. Nun musste der Landrat feststellen, «dass dieses hübsche Kätzchen scharfe Krallen, das Lämmchen harte Hörner zeigte».
Yusuf, der stille Protagonist des Romans, registriert bald, dass er in seiner neuen Umgebung ein ewig Fremder bleibt. Er wird zum stillen Kämpfer, der sich gegen seine Stiefmutter stellt. Eng verbunden fühlt er sich mit Muazzez, seiner Stiefschwester. Er ist ihr Freund und Beschützer. Die beiden lieben sich, doch wird die Verbindung mit Muazzez’ Tod tragisch enden.
In einer bilderreichen modernen Sprache charakterisiert der türkische Autor Sabahattin Ali (1907–1948) die Menschen Anatoliens und hält der Gesellschaft mit seinen ausgedehnten, humorvollen Schilderungen von Alltäglichkeiten einen Spiegel vor. Auch Kritik am Staat und an der korrupten Arbeitsweise der Justiz wird heftig geübt.
Alis Roman «Yusuf» gilt in der Türkei als Meisterwerk und steht auf der staatlichen Leseliste für Gymnasien. Dies erstaunt, wenn man das Nachwort der Übersetzerin Ute Birgi zum Leben des Autors liest. Sabahattin Ali, 1907 in Gümülcine im heutigen Nordgriechenland geboren, studierte von 1928 bis 1930 in Deutschland und arbeitete dann als Deutschlehrer in der Türkei. 1932 erschienen die ersten Kapitel von «Yusuf» als Fortsetzungsroman in einer türkischen Tageszeitung. Die Idee zum Roman hatte der Autor ein Jahr zuvor. Wegen «Unruhestiftung unter Studenten» sass er 1931 im Gefängnis. Dort erfuhr er viel über das Leben seiner anatolischen Landsleute.
«Im Gefängnis lernte Ali auch Yusuf und seine Geschichte kennen, welche die Grundlage zum Roman bildet», schreibt Übersetzerin Birgi. 1937 erschien «Yusuf» in Buchform und wurde noch im selben Jahr aus dem Verkehr gezogen. «Das Buch beflecke die türkische Familienehre und schwärze das Militär an», hiess es. Es bedurfte mehrerer Gutachten, um das hohe Gericht von der Qualität des ersten türkischen «Sittenromans» zu überzeugen.
Schicksal unbekannt
Alis Kampf gegen die staatliche Zensur nahm zeit seines Lebens kein Ende. 1948 wurde er auf der Flucht ins Exil an der bulgarischen Grenze ermordet. Bis heute ist ungeklärt, ob er einem Raubmord oder einem politischen Anschlag zum Opfer fiel. Auch Yusufs abschliessendes Schicksal bleibt unbekannt. Denn der vorliegende Roman war als erster Teil einer Trilogie geplant.
Sabahattin Ali
«Yusuf»
Aus dem Türkischen von Ute Birgi
369 Seiten
(Dörlemann 2014).