Wer so schreibt, sucht Streit: «Da verbeugte er sich vor seiner teuren, entzückenden, seiner unausstehlichen Frau …» Er gewährte ihr die Ehrerbietung, nachdem er zuvor einer Puppe an einem Schiessstand den Kopf abgeschossen hatte … Das sind die Fantasien des französischen Schriftstellers Charles Baudelaire (1821–1867) in dem Text «Der galante Schütze», einem «Prosagedicht», wie er die Kurzgeschichte nannte. Baudelaire mochte die Frauen nicht besonders.
Unter dem Titel «Der Spleen von Paris» im Sinne von «Die Schwermut von Paris» hat der deutsche Romanist Simon Werle nun die gesammelten Texte aus den letzten Lebensjahren des Schriftstellers neu zweisprachig herausgegeben, wovon einige erstmals auf Deutsch erscheinen.
Radikaler Moralist und grosse Nervensäge
Charles Baudelaire war ein Querkopf. Er hasste das restaurative Régime unter Napoleon III. und fühlte sich den französischen Frühsozialisten verbunden. Seine Eigenwilligkeit machte ihn aus heutiger Sicht zu einem Wegbereiter der literarischen Moderne. Zu seiner Zeit jedoch war er für die meisten eine Nervensäge, sofern sie ihn überhaupt kannten. Einzelne Texte im Band «Der Spleen von Paris» sind wie kurzweilige Rätsel zu lesen, die sich dem Leser nach und nach erschliessen.
Typisch etwa «Der grosszügige Spieler». Der Ich-Erzähler begegnet «einem liebenswürdigen Herrn, den ich schon immer hatte kennenlernen wollen, und den ich sofort erkannte, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte». Bald wird klar, dass sich der Ich-Erzähler mit dem Leibhaftigen auf ein Stelldichein einlässt. Aber dieser Teufel ist eine Symbolfigur des Fortschritts, dem «am meisten an der Zerstörung des Aberglaubens» gelegen ist – ein Alter Ego des Autors also. Baudelaire lebte in einer Zeit des Umbruchs: Der technische Fortschritt setzte sich allerorts durch, forderte jedoch zahlreiche Opfer etwa bei der Modernisierung von Paris. Da passte einer perfekt hinein, der alles und jedes infrage stellte. Auch wenn ihm das Zeit seines Lebens immer wieder Ärger mit der Obrigkeit eintrug. Einige seiner Gedichte wurden als «obszön» verboten.
Charles Baudelaire war auch ein radikaler Moralist, wie die Geschichte «Die gefälschte Münze» verdeutlicht. Der Ich-Erzähler berichtet von einem Freund, der einen Bettler mit einer gefälschten Münze grosszügig beschenkt. Der Freund beruft sich darauf, dass er dem armen Mann eine kurze Freude bereitete und gleichzeitig Geld sparte – eine absurde Win-win-Situation also, wie man heute sagen würde. Baudelaires Schlussfolgerung: «Das am wenigsten wiedergutzumachende Laster besteht darin, das Böse aus Dummheit zu tun.»
Gegner der bürgerlichen Gesellschaft
Baudelaire verstand sich als radikaler Gegner der bürgerlichen Gesellschaft. Tatsächlich war er damals fortschrittlichen Wertvorstellungen zugetan, wie in der Geschichte «Der Kuchen» zum Ausdruck kommt. Der Erzähler gönnt einem Betteljungen ein Stück Brot, das dieser für Kuchen hält. Sogleich taucht der Bruder des Kleinen auf und macht ihm die Beute streitig. Die beiden raufen sich so lange darum, bis nur Krümel übrig bleiben. Moral der Geschichte: Almosen bringen nichts. Wichtiger wäre mehr Solidarität unter den Zukurzgekommenen.
Buch
Charles Baudelaire
Der Spleen von Paris
Aus dem Französischen von Simon Werle
510 Seiten
(Rowohlt 2019)