Der Krieg begünstigt die Begegnung mit Menschen so ähnlich wie ein Eisenbahnunfall. Zu diesem Schluss kommt die junge Henriette. Die schlichte Adlige hat sich in den smarten Guillaume Thomas de Fontenay verliebt. Er gibt sich als Sohn eines berühmten Generals aus. Das bedeutet im Ersten Weltkrieg viel Prestige.
Damit eröffnet der französische Schriftsteller Jean Cocteau (1889–1963) seinen köstlichen Roman über den Dandy-Hochstapler «Thomas, der Schwindler». Cocteau hatte eine Art Autobiografie geschrieben, in die er Erlebnisse und frei Erfundenes munter reinpackt.
Die Absurditäten des Kriegs
Der Autor teilt viele Charakter-merkmale mit dem Scharlatan Guillaume: Er nimmt das Leben auf die leichte Schulter – Kriegsgrauen hin oder her. Materielle Sorgen plagen ihn kaum. Der aus einem wohlhabenden Haus stammende Cocteau ging nebst dem Schreiben nie einer Beschäftigung nach, die man herkömmlich als Arbeit bezeichnen könnte.
Guillaume sieht den Krieg wie ein Voyeur im Theater, den das richtige Leben langweilt. Darum fährt er mit einer Comtesse und deren Tochter Henriette von Paris in die zerstörte Stadt Reims, um Verwundete abzuholen. Sie requirieren einen Lieferwagen, tuckern los – und bringen tatsächlich einige Schwerverletzte zurück. Cocteau berichtet von den Absurditäten des Kriegs, etwa wie ein Wundarzt bei einer Amputation von Artilleriefeuer zerfetzt wird, und sich dann keiner mehr um den Schwerverletzten kümmert, weil der ja Pech gebracht hat: «Man musste den Wundbrand an ihm wuchern lassen wie Efeu an einer Statue.» Diese zerfiel dann allerdings schnell.
Wer das alles nur für Hirngespinste des Autors hält, liegt falsch: Jean Cocteau fuhr zu Beginn des Kriegs tatsächlich mit einem Privatwagen an die Front. Nicht als einziger übrigens: Legendär wurden die privaten Pariser Taxis, die 1914 zur Unterstützung der Soldaten an der Marne heranrollten, als die Deutschen kurz vor einem Durchbruch standen.
Dennoch werden die «Kriegserlebnisse» des Helden nicht zum Nennwert, wie die Literaturkritikerin Iris Radisch im Nachwort schreibt: «Cocteau wird Zeit seines Lebens darauf bestehen, dass die Erfindung des Selbst allemal jener amtlichen Figur vorzuziehen ist, deren Fotografie unser Ausweis zeigt.» Ehrlichkeit sei für Cocteau nur ein «Zeichen der Einfallslosigkeit» gewesen.
Das mag man als Snobismus abtun. Aber Cocteau trieb sein Dandytum nicht bis zur Geschmacklosigkeit. Der Hochstapler wird – natürlich – durchschaut. Doch er fliegt nicht auf, weil sein falscher Namen dazu beiträgt, an der Front den Verwundeten zu Hilfe zu kommen.
Wie der Krieg es so will: Keiner ist vor ihm sicher, auch der Möchtegernsohn eines Generals nicht, wie Guillaume erstaunt feststellen muss. Aber da ist es schon zu spät.
Buch
Jean Cocteau
Thomas, der Schwindler
Deutsche Erstausgabe: 1954
Übersetzung: Claudia Kalscheuer
185 Seiten
(Manesse 2018)