Wieder gelesen: «Ein ausgeblutetes Land»
Deutschland versank nach dem Zweiten Weltkrieg im Flüchtlingschaos. Die Journalistin und Fotografin Ré Soupault dokumentierte das Elend in einer aufregenden Reportage, die neu herausgekommen ist.
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Kulturtipp 24/2016
Rolf Hürzeler
Die Einzelfälle sind am eindrücklichsten: «Der Mann, zu dem der Polizist spricht, ist ein Greis, von Beruf Stricker. Seine Haut ist pergamentartig und gelb. Der Mann ist offensichtlich krank. Er geht tief gebeugt …» Sein wirkliches Alter lässt sich nicht mehr schätzen. Das beobachtete die deutsch-französische Fotografin und Journalistin Ré Soupault auf ihrer Reise durch Deutschland im Spätsommer 1950.
Der Wunderhorn-Verlag hat nun...
Die Einzelfälle sind am eindrücklichsten: «Der Mann, zu dem der Polizist spricht, ist ein Greis, von Beruf Stricker. Seine Haut ist pergamentartig und gelb. Der Mann ist offensichtlich krank. Er geht tief gebeugt …» Sein wirkliches Alter lässt sich nicht mehr schätzen. Das beobachtete die deutsch-französische Fotografin und Journalistin Ré Soupault auf ihrer Reise durch Deutschland im Spätsommer 1950.
Der Wunderhorn-Verlag hat nun Soupaults Reportage unter dem Titel «Katakomben der Seele» neu herausgegeben. Der Heidelberger Verleger Manfred Metzner hatte diese Reportage letztes Jahr in Ré Soupaults Nachlass gefunden: «Von wem sie 1950 den Auftrag für diese Reportage hatte, ist unklar. Es gibt aber einen Brief der NZZ vom 13.12.1950, in dem steht, dass sie die ‹bewundernswerte› Reportage nicht publizieren könne, da das Blatt schon ausreichend über Flüchtlingslager berichtet hätte», sagt Nachlassverwalter Metzner.
Ré Soupault (1901–1996) stammte aus Pommern und kam nach einer Zeit am Bauhaus in Weimar 1929 nach Paris. Hier verkehrte sie im legendären Café du Dôme von Montparnasse in der künstlerischen Avantgarde mit Man Ray, Fernand Léger oder Alberto Giacometti.
Sie fühlte sich in ihrer deutschen Heimat fremd und besuchte das Land nach ihrem Wegzug nur noch kurzzeitig wie in jenem September 1950. 12 Millionen Flüchtlinge vor allem aus Osteuropa brauchten damals eine Unterkunft in Westdeutschland, doch nach den Bombenangriffen der Alliierten waren 8,5 Millionen Wohnräume zerstört: «Ein ausgeblutetes Land», konstatierte Soupault. Sogar die Konzentrationslager der Nationalsozialisten wurden in Flüchtlingsunterkünfte umfunktioniert: «Dachau beherbergt 2100 Flüchtlinge. Als Betten dienen immer noch die alten Bretter und Strohsäcke des früheren KZs.» Am schlimmsten waren die Verhältnisse offenbar in den Durchgangslagern an der Grenze zum Eisernen Vorhang, wo die Flüchtlinge aus dem Osten um Aufnahme in den Westen ersuchten. Darunter hatte es viele Vertriebene aus dem Sudetenland oder Schlesien, die nach der stalinistischen Machtübernahme aus ihren Häusern vertrieben wurden.
Ré Soupault
«Katakomben der Seele – Eine Reportage über Westdeutschlands Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem 1950»
Neu erhältlich bei Wunderhorn.