«Es war Nacht. Eine dunkle, leicht dunstige Nacht. Versteckt hinter einem Felsen hörten wir das Tosen der Wellen und den Wind. Ein schwarzer Schatten erhob sich neben dem Boot: Es war der Schlepper.» Mit dieser düsteren Szenerie beginnt der Roman des marokkanischen Autors Mahi Binebine. Eine Gruppe von Menschen wartet am Strand von Tanger auf das Zeichen ihres Schleusers, um über das Meer Richtung Spanien zu flüchten. Es ist für sie die letzte Chance, aus einem Leben der Hoffnungslosigkeit zu entkommen.
Die Flüchtenden sind zu Namenlosen geworden
Eine junge Frau mit ihrem Baby und sechs Männer aus Mali, Algerien und Marokko wagen gemeinsam das Abenteuer. Die Reise soll über die Strasse von Gibraltar nach Spanien gehen. Nur etwa 14 Kilometer beträgt die Distanz. «Eine Sache von wenigen Stunden», hatte der Kompagnon des Schleppers am Vorabend angekündigt und scherzend hinzugefügt: «Einmal durch die Badewanne.»
Doch die hoffnungsfrohen Worte entpuppen sich als Farce. Angst, Kälte und das Schreien des Babys zehren an den Kräften jedes Einzelnen. An Umkehr ist nicht zu denken. Die Flüchtenden sind zu Namenlosen geworden, ihr gesamtes Vermögen wurde ihnen abgenommen, die Pässe und ihre letzten Habseligkeiten liegen im Sand vergraben.
Der Ich-Erzähler Asûs tritt in den endlosen Stunden des Bangens als Chronist auf. Er berichtet vom letzten Abend in Tanger, von seinem und dem Leben der anderen. Etwa vom Schicksal Yûssufs, deren ganze Familie nach dem Verzehr von selbst gebackenem Brot zu Tode kam, weil das vom Vater gestohlene Getreide mit Rattengift versetzt war. Geschichten wie diese machen deutlich, dass der Weg aus der Tristesse weit weg von der Heimat ist.
Mahi Binebine ist ein überragender Erzähler: Er versteht es, dramatische Schicksale so leicht zu erzählen, dass der Leser nie in Schwermut verfällt. Mit grosser Bildkraft berichtet der Autor vom Alltag, vom Leben, Sterben und der immerwährenden Hoffnung, welche die Ärmsten der Armen am Leben hält. Auszuhalten sind diese Schilderungen wohl nur dank Binebines Sinn für Humor, der nicht selten pechschwarz bis makaber ist. Sein Witz mutet schalkhaft an und ist Menschen eigen, die selber nichts zu lachen haben.
Von den Schattenseiten des Lebens
Mahi Binebine selbst gehört zu den Privilegierten in seinem Land. 1959 in Marrakesch geboren, studierte er in Paris Mathematik. Während seiner Tätigkeit als Lehrer fand er zur Malerei und zur Literatur. Trotz seiner erfolgreichen Laufbahn hat der Autor auch die Schattenseiten des Lebens kennengelernt. Seine Mutter musste ihre sieben Kinder in Marokko alleine durchbringen, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte. Binebines Bruder Aziz wurde 1971 in Marokko eingekerkert. Er war als junger Offizier beim gescheiterten Militärputsch gegen König Hassan II. dabei. 18 Jahre lang verbrachte er im Wüstenlager Tazmamart, eine schmerzliche Erfahrung, die Mahi Binebine in seinem 2017 erschienenen Roman «Le fou du roi» literarisch verarbeitet hat. Auf die deutsche Übersetzung darf man gespannt sein.
Buch
Mahi Binebine
Willkommen im Paradies
Franz. Erstausgabe: 1999, aus dem Französischen von Patricia A. Haldschik
Neuauflage 2017 bei Lenos