Das Grauen kennt keine Grenzen. «Sie hatten volle, grobe Gesichter ohne Kinn, fliehende Stirnen und spärliches, borstiges Haar auf den Köpfen. Nie hatte ich bestialischer aussehende Geschöpfe gesehen …» Mit diesen Worten schilderte der Schiffbrüchige Edward Prendick seine Begegnung mit Chimären, mit Fabelwesen zwischen Tier und Mensch auf einer Südseeinsel. Er strandete 1887 auf einem unbekannten Eiland; sein Neffe findet die absonderlichen Aufzeichnungen Prendicks nach dessen Tod in London.
Eine gruselige Version des Unvorstellbaren
Der englische Schriftsteller H.G. Wells hat mit dem Roman «Die Insel des Dr. Moreau» eine fantastische Geschichte geschrieben, wie sie in den Köpfen zahlreicher Menschen Ende des 19. Jahrhunderts herumgeisterten. Die Europäer hatten die Welt erst in groben Zügen entdeckt. Und sie erwarteten immer neue Überraschungen. H.G. Wells (1866–1946), damals ein Erfolgsautor, lieferte mit seinem «Moreau» eine gruselige Version vom Unvorstellbaren. Wells gilt heute in der angelsächsischen Welt als eine literarische Grösse, ausserhalb des englischen Sprachraums ist er jedoch kaum mehr bekannt. Es sei denn mit seinem Roman «Der Krieg der Welten», der in der Hörspielversion von Orson Welles 1938 für Furore sorgte.
Der gestrandete Prendick ist nicht der einzige Mensch auf der Insel. Mit ihm konnte sich der Schiffsarzt Montgomery retten. Dieser betreibt dort mit dem Wissenschaftler Dr. Moreau ein biologisches Labor, wo Tiere in menschenähnliche Wesen verwandelt werden, in «Beast Folk». Während Prendicks Aufenthalt entwickelt sich ein Kampf zwischen den künstlichen Wesen und den drei Männern, die sich gegenseitig nicht trauen.
So ist jeder auf sich allein gestellt: «Ich rannte mit der Schulter gegen eines der tollpatschigen Geschöpfe, das sich umdrehte, und schleuderte es gegen ein anderes. Ich fühlte, wie seine Hände herumflogen, nach mir griffen und mich verfehlten.» Wahr, halbwahr oder alles nur geträumt? Der Leser ist bei der Lektüre nie ganz sicher, was er dem Ich-Erzähler Prendick glauben darf. Dazu trägt die marginale Rahmenhandlung bei, in welcher der Neffe des Abenteurers von seinem Fund der Aufzeichnungen berichtet. Er zweifelt selbst am Wahrheitsgehalt der Schilderungen, ein beliebter Verfremdungseffekt in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts.
Ein ungewöhnlicher Fantasy-Roman
Die Wirkung des Romans hält bis heute an. 1996 kam die Verfilmung von John Frankenheimer ins Kino mit Marlon Brando und Val Kilmer in den Hauptrollen.
Der nun neu aufgelegte Band zeichnet sich durch kunstvolle Holzschnitte von Nicole Riegert aus, die der Fantasiewelt von H.G. Wells sehr gerecht werden. Abgesehen von ihrer künstlerischen Qualität dienen sie als wunderbare Illustration des Unvorstellbaren. Dazu kommt ein klar strukturierter Essay, der die wichtigsten Aspekte dieses ungewöhnlichen Fantasy-Romans zusammenfasst.
Buch
H.G. Wells
Die Insel des Dr. Moreau
1904 erstmals auf Deutsch erschienen
Neuausgabe 2017 von Oliver Lubrich mit Illustrationen von Nicole Riegert bei Kunstanstifter