«Sehn wir uns wieder, / Blüht weisser Flieder, / Ich hüll Dich in Kissen, / Du sollst nichts mehr missen.» So schwärmerisch gibt sich die 18-jährige Studentin Hannah Arendt im Gedicht «Im Volksliedton», wenn sie an den 17 Jahre älteren berühmten Philosophie-Professor Martin Heidegger schreibt. Die heimliche Liebe zu Heidegger war der Anlass, überhaupt mit dem Dichten zu beginnen. Die ersten melancholischen Liebesverse, entstanden zwischen 1923 und 1926 in Marburg, bilden den Auftakt im neu erschienenen Band «Ich selbst, auch ich tanze». Er enthält sämtliche ihrer 71 Gedichte – darunter 8 bisher unbekannte. Abschied, Liebesschmerz oder Orientierungslosigkeit sind die vorherrschenden Themen in diesem ersten Teil – durchaus nicht nur in der blumigen Sprache wie im Eingangsvers, sondern auch mit Gespür für Klang und Rhythmus:
Kein Wort bricht ins Dunkel –
Kein Gott hebt die Hand –
Wohin ich auch blicke
Sich türmendes Land.
Keine Form, die sich löset,
Kein Schatten, der schwebt.
Und immer noch hör ich’s:
Zu spät, zu spät.
(Hannah Arendt: Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte © 2015 Piper Verlag GmbH, München)
Der zweite Teil widmet sich den 50 Gedichten, die zwischen 1942 und 1961 entstanden sind, als sie vor den Nazis in die USA flüchten musste. Kämpferische Verse, wie man sie von Hannah Arendt gewohnt ist, finden sich hier: «Recht und Freiheit / Brüder zagt nicht / Vor uns scheint das Morgenrot. / Recht und Freiheit / Brüder wagt es / Morgen schlagen wir den Teufel tot.» Auch im zweiten Teil überwiegen die dunklen Themen wie der Tod, die Nacht, Leiden und Trauer, oft als lyrische Verarbeitung ihres Entsetzens über den Holocaust. Weitere Gedichte sind aus Naturerlebnissen entstanden oder Nachrufe auf verstorbene Freunde wie die Schriftsteller Walter Benjamin oder Hermann Broch.
Formal sind Hannah Arendts Gedichte konventionell und weit entfernt von der avantgardistischen Lyrik ihrer Zeit. Aber sie geben einen Einblick in das private Leben der grossen Philosophin und Professorin für Politische Theorie, die mit Werken wie «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» oder mit dem «Bericht von der Banalität des Bösen» von sich reden machte. Und sie zeigen nebst ihrer kämpferischen, ironischen, rationalen auch eine sanftere Seite.
Literarischer Einfluss
«Nur von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (nicht von den Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten)», schrieb Hannah Arendt Mitte der 50er-Jahre in ihrem «Denktagebuch». Die Dichtung hatte stets eine wichtige Bedeutung für ihr Leben und Denken. In ihren Arbeiten hat sie sich immer wieder auf berühmte literarische Werke bezogen, um politische und philosophische Zusammenhänge darzustellen. So stützt sie sich etwa in ihrem Hauptwerk «Vita activa» von 1958 auf Gedichte von Goethe, Fontane, Rilke und Brecht. Und sie zeigt auch selbst erzählerische Qualitäten in ihren theoretischen Texten, wie die Philologin Irmela von der Lühe im Nachwort des Lyrikbandes schreibt. Ein Anhang mit ausführlichen editorischen Notizen rundet den Band ab.
Buch
Hannah Arendt
«Ich selbst, auch ich tanze»
160 Seiten
(Piper 2015).