Träumen kann politisch sein. «Und es kamen Hunderttausende in die Schweiz, die meisten nur mit dem, was sie auf dem Leib trugen, aber jeder Schweizer, der zwei Hemden hatte, gab eines ab, und wer zwei Paar Schuhe hatte, gab ein Paar für die Flüchtlinge.» Man weiss, dass die Schweiz in den 1930ern und 1940ern diese Grossherzigkeit nicht zeigte. Aber der Jude David Boller träumte solchermassen in tiefem Schlaf, nachdem er eine Tablette geschluckt hatte. Er war bei seinem Grossvater in Zürich aufgewachsen, weil die Nationalsozialisten die Eltern ermordet hatten, nachdem sie nicht in die Schweiz einreisen durften.
Abrechnung mit der Flüchtlingspolitik
Von Davids Traum schrieb der Schweizer Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann (1927– 1979) in seinem Roman «Die Hinterlassenschaft» von 1965. Diggelmann rechnete darin mit der schweizerischen Flüchtlingspolitik ab, als die Nationalsozialisten die Juden zuerst verfolgten und später in Konzentrationslagern systematisch ermordeten. Laut Diggelmann steht die Schweiz in einer Mitverantwortung für diesen Völkermord, weil sie zu wenig Flüchtlinge aufgenommen hatte. Er verknüpfte seine Kritik zudem mit einer Abrechnung mit den Bürgerlichen im Kalten Krieg. Denn für Diggelmann waren Antikommunismus und Antisemitismus zwei Seiten der gleichen Münze einer reaktionären Währung. Der Roman ist nun im Chronos Verlag als zeitgeschichtliches Dokument neu herausgekommen.
Der Autor verpackte seine Botschaft in eine erzählerische Rahmenhandlung. David findet im Nachlass seines Grossvaters eine Sammlung politischer Zeitdokumente aus den 1930ern und 1940ern. Er will dieses Material in einer eigens gegründeten Zeitschrift veröffentlichen. Nach und nach findet David auf der Spurensuche seiner Vergangenheit federführende Akteure jener Zeit: etwa den Rechtsanwalt, der seine Adoption ermöglichte, oder den Publizisten Ulrich Frauenfelder. Dieser ist ein rechtsbürgerlicher Apologet der Schweizer Fröntler und führt nun eine Presseagentur.
David will die Verantwortlichen für die Flüchtlingspolitik vor dem Hintergrund der sowjetischen Intervention in Ungarn 1956 zur Rechenschaft ziehen und erlebt gleichzeitig die bürgerlichen Diffamierungen des Thalwiler Kommunisten Konrad Farner. Zum Schluss wird David selbst das Opfer eines antisemitischen Übergriffs in einem Wirtshaus, ohne dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.
Diggelmann vermischte in dieser Geschichte Erfundenes mit Zeitgeschichtlichem. Wie im Nachwort zu lesen ist, brachte ihm dieses Vorgehen Kritik ein – abgesehen von den Vorbehalten, die von bürgerlicher Seite zu erwarten waren. Heute mutet der Roman geradezu modern an, ist das Genre Doku-Fiction doch in allen Medien verbreitet. Dennoch wird es «Die Hinterlassenschaft» bei der gegenwärtigen Leserschaft schwer haben, denn das Buch ist zu sehr dem Geist des Kalten Kriegs verpflichtet. Diggelmann zeichnete seine Figuren holzschnittartig: Allen voran fällt das reaktionäre Monstrum Ulrich Frauenfelder auf, ein polemisches Konstrukt, wie Diggelmann es damals gesehen haben mag. Heute kommt es einem allzu klischiert vor.
Buch
Walter Matthias Diggelmann
Die Hinterlassenschaft
325 Seiten
Erstausgabe: 1965
(Chronos 2020)