Wieder gelesen: Der Schnüffler im Fiebertraum
Vor 80 Jahren schuf Raymond Chandler mit Philip Marlowe den wohl bekanntesten Privatdetektiv. Diogenes legt mit «Der grosse Schlaf» den ersten Fall des sarkastischen Ermittlers neu auf.
Inhalt
Kulturtipp 20/2019
Simon Knopf
Manchmal lohnt es sich, einen Text laut zu lesen: «Regen füllte die Gossen und spritzte kniehoch vom Pflaster. Grosse Bullen in Ölhäuten, die wie Pistolenläufe glänzten, schleppten zu ihrem grössten Vergnügen kichernde Mädchen über breite Lachen. Der Regen trommelte schwer aufs Wagendach und durchs Verdeck begann es zu tropfen. Eine Wasserpfütze vor meinem Sitz diente mir als Fussbad.» So liess Raymond Chandler den Privatdetektiv P...
Manchmal lohnt es sich, einen Text laut zu lesen: «Regen füllte die Gossen und spritzte kniehoch vom Pflaster. Grosse Bullen in Ölhäuten, die wie Pistolenläufe glänzten, schleppten zu ihrem grössten Vergnügen kichernde Mädchen über breite Lachen. Der Regen trommelte schwer aufs Wagendach und durchs Verdeck begann es zu tropfen. Eine Wasserpfütze vor meinem Sitz diente mir als Fussbad.» So liess Raymond Chandler den Privatdetektiv Philip Marlowe 1939 in seinem ersten Kriminalroman «Der grosse Schlaf» eine Nacht absitzen – mit viel Gespür für Rhythmus und Klang. Der Stil sei das Langlebigste am Werk eines Autors, sagte der US-Amerikaner einmal. Und der Stil ist es, der nebst der Ikone Philip Marlowe dafür sorgt, dass «Der grosse Schlaf» heute zu den wichtigsten Romanen des 20. Jahrhunderts gezählt wird.
Ein steiniger Weg zum Schriftsteller
Dabei ist die Geschichte des Autors und seiner Figur einigermassen bemerkenswert. Raymond Chandler (1888–1959) versuchte sich erfolglos als Autor und verdingte sich als Buchhalter, er scheiterte als Ölunternehmer und kehrte schliesslich mit 43 Jahren zum Schreiben zurück. Sieben Marlowe-Krimis verfasste er, der Diogenes-Verlag legt diese nun als Neuübersetzungen auf. Für Chandler kam der Erfolg auch nach 1939 nur schleppend: Erst die Verfilmung von «Der grosse Schlaf» mit Humphrey Bogart steigerte ab 1946 die Buchverkäufe. Und machte seinen kernigen Detektiv zum beliebten und viel kopierten Typus. Erfunden hat Chandler diesen freilich nicht. Dashiell Hammett und andere schickten schon in den 1920ern ihre «hard-boiled detectives» los. Chandler aber verlieh diesen eher eindimensionalen hartgesottenen Ermittlern Tiefe – gut 20 Kurzgeschichten für ein Pulp-Magazin dienten ihm als Fingerübungen. Sein Philip Marlowe ist ein Trinker und Schachliebhaber, ein Zyniker vor dem Herrn. Gleichgültig gegenüber Gewalt, ist er doch erstaunlich verletzlich. Gerechtigkeit und Moral gewichtet er höher als den Kontostand. Oder wie er es selber auf seine sarkastische Art sagt: «Antiquitäten sammle ich nicht – ausser unbezahlten Rechnungen.»
In «Der grosse Schlaf» ermittelt Marlowe für den stinkreichen General Sternwood; die jüngere der beiden Töchter des Ölmagnaten wird erpresst. Die Spur führt den Detektiv zu einem Buchhändler, den er jedoch tot auffindet. Immer verstrickter wird der Fall ab da; erst zum Schluss werden alle Beweggründe und Verbindungen der Figuren ersichtlich.
Dialoge wie Schusswechsel
Chandler baute alle seine Marlowe-Krimis nach diesem Muster auf: Atmosphäre war ihm wichtiger als die Handlung. Also zimmert er aus ausschweifenden Beschreibungen eine Kulisse, vor der er Marlowe auf fiebrige Schnitzeljagden durch ein Los Angeles voller Femmes fatales, zwielichtiger Geschäftsleute und brutaler Klubbesitzer schickt. Das Ganze sprenkelte er mit Dialogen wie Schusswechsel und Vergleichen, wie sie kein Zweiter schrieb. Bei ihm sind Ganoven «unauffällig wie eine Tarantel auf einem Quarkkuchen» und Leichen «schwerer als einsame Herzen». Und für die Leser ist das alles noch immer vergnüglich wie … eben: Raymond Chandler konnte das besser.
Buch
Raymond Chandler
Der grosse Schlaf
Aus dem Englischen von Frank Heibert
Deutsche Erstaus-gabe: 1950
(Diogenes 2019)