Wieder gelesen: Der Nachbar als Barbar
Der Literaturkritiker Jacques Rivière hat im Buch «Der Deutsche» seine Erinnerungen als Kriegsgefangener niedergeschrieben – eine gnadenlose Abrechnung.
Inhalt
Kulturtipp 13/2015
Letzte Aktualisierung:
16.06.2015
Rolf Hürzeler
Die deutsche Seele leidet – aber warum nur? Denn: «Da ist es hohl, nichts weiter.» Zu diesem Befund kommt der französische Literaturkritiker und Philosoph Jacques Rivière (1886–1925), der 1918 nach seiner deutschen Kriegsgefangenschaft seine Betrachtungen zu Papier gebracht hat. Der Mann ist – wohl nicht zufällig – im deutschsprachigen Raum kaum bekannt. Dennoch ist dieses Buch nun in deutscher Übersetzung herausgekommen.
Riv...
Die deutsche Seele leidet – aber warum nur? Denn: «Da ist es hohl, nichts weiter.» Zu diesem Befund kommt der französische Literaturkritiker und Philosoph Jacques Rivière (1886–1925), der 1918 nach seiner deutschen Kriegsgefangenschaft seine Betrachtungen zu Papier gebracht hat. Der Mann ist – wohl nicht zufällig – im deutschsprachigen Raum kaum bekannt. Dennoch ist dieses Buch nun in deutscher Übersetzung herausgekommen.
Rivière hatte Glück. Bereits im ersten Kriegsmonat, im August 1914, geriet er in deutsche Gefangenschaft und landete im Lager Königsbrück im Osten des Landes. Nach einem Fluchtversuch und Beihilfe zur Flucht kam er ins «Loch», seine Gesundheit litt unter den Strapazen. Dank der Vermittlung von Freunden fand er im Schweizer Internierungslager bei Engelberg Aufnahme.
Zeitzeugnis
Seine Aufzeichnungen über die Deutschen lassen sich als eine polemische Abrechnung eines Opfers abtun. Aber sie sind von zeitgeschichtlichem Wert, denn sie belegen, wie gross das Unverständnis zwischen den Kriegsgegnern damals war. Typischerweise kommt Rivière in der «Vorrede» zu einer Neuauflage seiner Aufzeichnungen 1924 zum Schluss, dass seine Einsichten unmittelbar nach dem Kriegsende weiterhin gültig seien.
«Um zu begreifen, wie wenig den Deutschen ihre Brutalität bewusst und wie sehr sie dem Wesen nach physischen Ursprungs ist, muss man ansehen, mit welcher Leichtigkeit sie das Böse vergessen, das sie einem zugefügt haben. Hierin sind sie von einer unglaublichen Grosszügigkeit.» Aus solchen Worten spricht vor allem Verletzung – keine Spur von Vergebung. Denn: «Sie können einen in Stücke schlagen: Zehn Minuten später sieht man sie glücklich und zufrieden.»
Jacques Rivière hat das Buch in zwei Teilen herausgegeben. Im ersten brachte er seine Erkenntnisse zu Papier. Im zweiten lässt er den Deutschen das Wort, ein scheinbarer Akt der Fairness. Doch die von ihm ausgewählten Passagen bestätigen lediglich die zuvor beklagte Barbarei.
Auch wenn der Autor aus Sicht der Nachgeborenen masslos übertreibt und verfälscht: Das Buch belegt, wie weit die Verständigung zwischen den beiden Völkern heute fortgeschritten ist.
Jacques Rivière
«Der Deutsche»
Französische Erstausgabe: 1918
Erstmals in deutscher Übersetzung bei Lilienfeld 2014.