Der japanisch-englische Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat mit seinem 2005 erschienenen Roman «Alles, was wir geben mussten» eine dystopische Vision von jungen Menschen als Organlieferanten geschrieben. Sie leben in einem Heim mit dem einzigen Lebenszweck, Patienten mit gesunden Organen zu versorgen. Die Handlung ist rührend und erschreckend zugleich: Der Leser fiebert mit den Opfern einer verbrecherischen Medizin mit und klammert sich an jeden Rettungshalm für ein Happy End, das ihm der Autor am Ende nicht gönnt. In diesem Werk zeigte sich Ishiguro erstmals als jener perfekte Stilist, zu dem er sich mit den Jahren entwickelte.
Differenzierte Sicht auf die 1930er-Jahre
Vor dem Hintergrund des aufstrebenden Nazireichs spielt Ishiguros berühmtester Roman «Was vom Tage übrig blieb». Auf dem Landsitz des fiktiven Lord Darlington verkehren in den 1930ern besorgte konservative Politiker, Nazi-Sympathisanten und verkappte Antisemiten. Die meisten dieser Protagonisten setzen sich für ein Arrangement mit der Hitler-Herrschaft ein. Der 1989 erschienene Roman verurteilt das politische Entgegenkommen gegenüber den Deutschen. Allerdings ist das nur eine Lesart. Kazuo Ishiguro wagt es auch, ihre damalige politische Sichtweise dem Leser näherzubringen, etwa die prägenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs oder die im Bürgertum weitverbreitete Angst vor der Sowjetunion mit ihren Ablegern in den britischen Gewerkschaften.
Der Regisseur James Ivory verfilmte den Stoff von «Was vom Tage übrig blieb» mit Emma Thompson und Anthony Hopkins so erfolgreich, dass viele Kinobesucher glaubten, auf die Lektüre des Buchs verzichten zu können. Schade, denn die menschlichen und die politischen Grundkonflikte sind im Buch deutlich differenzierter dargestellt als in der Kinoversion.
Eine Würdigung des Gesamtwerks
Kazuo Ishiguro ist einer, der sein Licht unter den Scheffel stellt. In einem Gespräch über sein Engagement für die Literatur vor ein paar Jahren bekannte er sich zu einem Schreibkurs an der Universität von East Anglia, wo sein Mentor, der Schriftsteller und Literaturkritiker Malcolm Bradbury, lehrte. Als ob einer den Schreibberuf lernen könnte wie die doppelte Buchführung. Geht nicht, wie die Laufbahn von Ishiguro belegt: Er veröffentlichte bereits in seinen East-Anglia-Studentenjahren Kurzgeschichten.
Ishiguro spricht viel von Selbstzweifeln, die ihn immer wieder plagten. «Ein Künstler ohne Ego, aber von grosser moralischer Autorität», schrieb der «Guardian». In diesem Sinn wird er die Preisverleihung nun als eine Würdigung seines Gesamtwerks verstehen, das für die Briten in die Kategorie von Ian McEwans Werk gehört, dessen Romane in ihren Grundzügen mit Ishiguros Werken vergleichbar sind.
Bücher
Kazuo Ishiguro
«Alles, was wir geben mussten»
Erstmals auf Deutsch erschienen: 2005
Heute erhältlich bei Heyne.
Kazuo Ishiguro
«Was vom Tage übrig blieb»
Erstmals auf Deutsch erschienen: 1990
Heute erhältlich bei Heyne.