Am 15. April 1920 werden bei einem bewaffneten Raubüberfall auf eine Schuhfabrik in South Braintree in Massachusetts zwei Männer getötet. Drei Wochen später verhaftet die Polizei die beiden Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti. Im politisch aufgeheizten Klima der 20er-Jahre kommt es zu einem aufsehenerregenden Prozess, in dem das Gericht die beiden trotz dürftiger Beweislage zum Tod verurteilt. Sie sollen mit ihrem erbeuteten Geld Bombenanschläge auf die Regierung finanziert haben.
Sinclair wollte von der «Wahrheit» schreiben
Der Fall Sacco–Vanzetti erhitzte in den 1920ern weltweit die Gemüter. Intellektuelle und Künstler von Albert Einstein bis George Bernard Shaw setzten sich für die beiden italienischen Anarchisten ein, denen in den USA der Prozess gemacht wurde. Auch Autor Upton Sinclair verfolgte das Verfahren und brachte 1928 den Roman «Boston» heraus – ein Jahr nach der Vollstreckung des Urteils.
Sinclairs Ziel war es, die «Wahrheit» über den Fall zu schreiben, die verlogene Bostoner Elite zu entlarven und den unschuldigen Einwanderern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sinclair verschwieg allerdings, dass er kurz vor der Veröffentlichung des Buchs von deren Anwalt erfahren hatte, dass ihre Alibis getürkt und sie tatsächlich schuldig waren.
In einem lange Zeit verschollenen Brief aus dem Jahre 1929 schildert er, wie ihn die Entdeckung in schwere Gewissensnöte brachte. Er unterliess es aber, seinen Roman in letzter Minute umzukrempeln. Seinen linken Idealen diente er besser, wenn er die Erkenntnis unter den Teppich kehrte und die beiden Märtyrer der US-amerikanischen Linken nicht entmystifizierte. Auch würde sich der Roman wohl besser verkaufen, wenn er die Erwartungen der Leser bediente; Sinclair hoffte auf den Pulitzer-Preis.
Der dokumentarische Roman «Boston» ist eine gekonnte Mischung aus akribisch recherchierten Fakten und fiktiven Handlungssträngen. Hauptfigur ist Cornelia Thornwell. Sie ist die Ehefrau eines Patriarchen einer alteingesessenen Bankiersfamilie.
Eingebettet in eine fiktive Geschichte
Der Tod ihres Mannes ist es, der den Ausschlag gibt für Thornwells persönliche kleine Revolution: Die 61-Jährige verlässt die Familie und taucht für ein Jahr unter. Sie will auf eigenen Füssen stehen und niemandem verantwortlich sein. Dazu mietet sie sich bei italienischen Einwanderern ein und geht wie diese jeden Tag zu Fuss in die Fabrik, um zu arbeiten. Radikaler hätte der Gegensatz zu ihrem wohlbehüteten Leben in der Bostoner Oberschicht kaum sein können.
In diese fiktive Handlung bettet Sinclair die Geschichte des Schuhmachers Nicola Sacco und des Fischhändlers Bartolomeo Vanzetti ein. Er lässt Vanzetti als Untermieter in derselben Familie wohnen wie Cornelia Thornwell. Die zwei freunden sich an, und die aufgeschlossene Dame lernt sozialistisches und anarchistisches Gedankengut kennen.
Sieben Jahre lang kämpften Cornelia Thornwell und ihre Nichte für ihre Freunde. Sie demaskierten das korrupte Gerichtsprozedere und die Privilegien und Ränke der Bostoner Oberschicht. Trotzdem sterben Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti schliesslich auf dem elektrischen Stuhl.
Buch
Upton Sinclair
Boston
Erstmals auf Deutsch erschienen: 1929 Neuübersetzung von Viola Siegemund
(Manesse 2017).