Wieder gelesen: Bissige Gesellschaftssatire
Der französische Autor Gustave Flaubert hat mit seinem Bildungsroman «Lehrjahre der Männlichkeit» ein Panoptikum des französischen Bürgertums im 19. Jahrhundert geschrieben.
Inhalt
Kulturtipp 23/2020
Rolf Hürzeler
Von Ruhe und Ordnung konnte damals keine Rede sein. «Von allen Fenstern am Platz wurde geschossen, die Kugeln pfiffen; das Wasser des geborstenen Brunnens vermengte sich mit dem Blut, bildete Pfützen auf der Erde …» So erlebt der junge Frédéric Moreau die Tage des Aufruhrs Ende Februar 1848 in den Pariser Strassen. Er steht im Mittelpunkt des mehr als 20 Jahre später erschienenen Bildungsromans «Lehrjahre der Männlichkeit» des...
Von Ruhe und Ordnung konnte damals keine Rede sein. «Von allen Fenstern am Platz wurde geschossen, die Kugeln pfiffen; das Wasser des geborstenen Brunnens vermengte sich mit dem Blut, bildete Pfützen auf der Erde …» So erlebt der junge Frédéric Moreau die Tage des Aufruhrs Ende Februar 1848 in den Pariser Strassen. Er steht im Mittelpunkt des mehr als 20 Jahre später erschienenen Bildungsromans «Lehrjahre der Männlichkeit» des französischen Schriftstellers Gustave Flaubert (1821–1880). Dieser rechnet darin mit dem aufstrebenden Bürgertum ab, dem er indes selbst angehörte. Das Buch ist nun in einer neuen, weitherum gewürdigten Übersetzung von Elisabeth Edl auf Deutsch erschienen.
Geld und Besitztümer als Mass aller Dinge
Der Roman hat nie die Anerkennung von «Madame Bovary» gefunden, dem berühmtesten Werk Flauberts. Dennoch bietet er einen grandiosen Einblick in die bürgerliche Gesellschaft Frankreichs vor fast 200 Jahren mit all ihren Verwerfungen, die immer wieder zu gewalttätigen Ausbrüchen führten wie in jenem Jahr 1848. Sie gipfelten im Rücktritt des Bürgerkönigs Louis-Philippe und galten in der Folge als Signal für Rebellionen in ganz Europa. Flaubert hält sich fast akribisch an die politische Aktualität seiner Zeit und nutzt die Romanform, diese bissig-ironisch zu kommentieren.
Der 18-jährige Protagonist Frédéric Moreau aus der Normandie möchte in Paris als angehender Jurist die gesellschaftliche Leiter emporklettern. Vor allem aber verliebt er sich auf einer Seine-Fahrt in die unerreichbare Marie Arnoux, die Ehefrau eines Verlegers und Kunsthändlers. In ihr vereinigt er seine Sehnsüchte nach amouröser Erfüllung und gesellschaftlicher Anerkennung. Moreau verfolgt den Aufstieg indes keineswegs zielstrebig. Er lässt sich von seinen Kumpels noch so gerne ablenken, unternimmt etwa Versuche in der Malerei oder als Autor und scheitert immer wieder an seiner Unentschlossenheit. Wie fast immer in den Romanen jener Zeit gelten Geld und Besitztümer als Mass aller Dinge: «Nun stieg das Eigentum in der allgemeinen Hochachtung auf die Stufe der Religion und verschmolz mit Gott.»
Gustave Flaubert hat in dem Roman autobiografische Erfahrungen verwoben. Der Autor wuchs in behüteten Verhältnissen in der Normandie auf. Er litt unter einer unerfüllten Liebe zu einer älteren Frau, er nahm ein Rechtsstudium auf, ohne abzuschliessen, und er hatte keine materiellen Sorgen.
Frédéric Moreau bleibt im Roman seinem Verlangen nach Marie Arnoux treu, auch als ihre Ehe nach Fehlspekulationen ihres Mannes in eine Krise gerät und sie Frédéric weiterhin ablehnt. Ihre Ehrhaftigkeit kontrastiert Flaubert mit der Halbweltdame Rosanette, welche die Liebhaberin von Monsieur Arnoux und Frédéric ist, von dem sie ein Kind kriegt. Wer nun glaubt, all diese Verwicklungen führten zu einem Ende im Glück, sieht sich getäuscht. Der Held muss sich am Schluss des Romans enttäuscht die Sinnfrage seines Suchens eingestehen: «Er hatte zwei Drittel seines Vermögens aufgezehrt und lebte nun als Kleinbürger.»
Buch
Gustave Flaubert
Lehrjahre der Männlichkeit
Dt. Erstausgabe: 1904
(Hanser 2020)