Die ledige Lolly Willowes muss nach dem Tod ihres Vaters das elterliche Anwesen verlassen. Sie zieht zur Familie ihres Bruders nach London, um als angehende Jungfer ein ätzend langweiliges Leben zu führen. Doch da weist ihr eine mysteriöse Eingebung den künftigen Weg zur Eigenständigkeit.
Stets witzig, mit feiner Feder gezeichnet
Sylvia Townsend Warner (1893– 1978) war eine der ungewöhnlichen Figuren der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die im bürgerlichen Milieu aufgewachsene Frau verstrickte sich mit 19 Jahren in eine jahrelang dauernde Liaison mit ihrem verheirateten Musiklehrer. Später verliebte sie sich in die Dichterin Valentine Ackland, mit der sie während Jahren zusammenlebte. Die beiden schlossen sich Mitte der 1930er-Jahre der Kommunistischen Partei an und berichteten aus Valencia und Madrid über den Spanischen Bürgerkrieg. Sylvia Townsend Warner war bis in die Nachkriegszeit eine überzeugte Stalinistin.
Von dieser politischen Haltung ist im ersten Roman «Lolly Willowes» wenig zu spüren. Ihre Kritik an der englischen Mittelklasse bleibt stets witzig, mit feiner Feder gezeichnet, etwa wenn sie Tätigkeiten im Haushalt ihrer Schwägerin beschreibt: «Dann kam das Einkaufen, Briefeschreiben, Blumenarrangieren, das Säubern des Vogelkäfigs und der Spaziergang mit den Mädchen … Nach dem Mittagessen wurde eine Weile gestickt und die ‹Times› gelesen …» In diesem Mief erstickt Lolly. Auf einem Spaziergang durch London hat sie eine Erscheinung, kauft einen Reiseführer und entscheidet sich für das Leben in einem abgeschiedenen Dorf.
Lolly lässt sich in dem Flecken Great Mop nieder und beobachtet das seltsame Verhalten der Einheimischen. Bei einem nächtlichen Treffen mit traumartigen Hexentänzen in einer Waldlichtung macht sie die Bekanntschaft mit «dem liebevollen Jägersmann» und geht mit ihm einen Pakt ein, keinen faustischen, vielmehr einen freundschaftlichen. Dieser Teufel ist kein fürchterlicher Satan; er weist ihr den Weg zur Befreiung aus den gesellschaftlichen Zwängen einer repressiven Mittelklasse: «Denn Satan ist nur Jäger: Sein Interesse an der Menschheit ist das eines begabten und erfahrenen Naturwissenschafters.» Sie ist «irgendwie zufrieden, dass sie in den Sack gesteckt worden war». Wie ihr neues Leben als Hexe aussieht, erschliesst sich aus dem Roman nicht, ausser dass sich Lolly glücklich fühlt: «Eine Hexe, befreit aus der Sicherheit ihres Meisters, während er, wachsam und verstohlen, bereits nach seiner neuen Beute Ausschau hielt.»
Leben einer Aussenseiterin
Sylvia Townsend Warner, wie die Autorin sich nannte, war neben ihrem politischen Aktivismus eine fleissige Schreiberin. Sie veröffentlichte sieben Romane, die zu ihrer Zeit besonders in den USA erfolgreich waren. Sie schrieb Erzählungen und Gedichte; vor allem aber war sie eine regelmässige Autorin der Zeitschrift «The New Yorker». Diese bemerkenswerte Frau führte in ihrer Heimat das Leben einer Aussenseiterin, fand aber fernab davon die ihr gebührende Anerkennung. Denn der Roman «Lolly Willowes» ist ein grossartiges Lesevergnügen.
Buch
Sylvia Townsend Warner
Lolly Willowes oder Der liebevolle Jägersmann
Dt. Erstausgabe: 1930
Heute erhältlich bei Dörlemann