In Frankreich ist sie eine wichtige Stimme seit Jahrzehnten. Aktuell äussert sich Annie Ernaux etwa zur Gelbwesten-Bewegung und zeigt Verständnis für den Aufstand dieser Menschen. Es sei die erste Revolution im Land, die nicht von Paris ausgehe, betont die 78-jährige Autorin und begründet ihre Sympathie mit der eigenen Herkunft. Annie Ernaux stammt aus der französischen Provinz. Weit wichtiger noch:
Sie stammt «aus einfachen Verhältnissen», wie sie in «Der Platz» schreibt, ihrem gerade auf Deutsch erschienenen Buch.
Verfasserin einer Kartografie des Erinnerns
Mit diesem 1983 im Original erschienenen Text hat die damalige Jungautorin versucht, sich an ihren verstorbenen Vater zu erinnern und damit an ihre Jugend, Kindheit, Herkunft. «Der Platz» ist weder Roman oder Erzählung noch Autobiografie. Man ist versucht, von einem retrospektiven Essay zu sprechen. In Frankreich brachte Ernaux damit Kritik und Literaturwissenschaft dazu, von einer neuen Gattung der «Autofiktion» zu sprechen. Annie Ernaux schreibt in «Der Platz», sie wolle «das Erbe ans Licht holen, das ich an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt zurücklassen musste».
Eine Ansage von vordergründiger Dünkelhaftigkeit, von der sich im Buch noch weitere finden. Ihren Grossvater charakterisiert Ernaux mit dem Satz: «Die Boshaftigkeit war sein Antrieb, sie gab ihm die Kraft, sich der Armut zu widersetzen, und liess ihn glauben, dass er ein Mann war.» Ihren Eltern gesteht sie jenen titelgebenden «Platz» zu, der «in der Armut oder knapp darüber» lag. Doch Annie Ernaux geht es nicht um familiäre und soziale Abgrenzung. Im Gegenteil: Sie will erkunden, wie es zu dieser Entfremdung kam.
Über weite Strecken tut sie dies, indem sie Erinnerungen an den Vater in fast journalartig kurzen Einträgen sammelt. Damit begibt sie sich zurück in die Welt jenes ihr fremd gewordenen Mannes, der sich vom Knecht zum Arbeiter und schliesslich zum Laden- und Kneipenbesitzer emporarbeitete. Und doch in jenen «einfachen Verhältnissen» der französischen Provinz steckenblieb, während die Tochter bürgerlich heiratete, studierte und zur gefeierten Schriftstellerin wurde. «Ich sage oft ‹uns› und ‹wir›, weil ich lange so dachte, ich weiss nicht, wann ich damit aufgehört habe», schreibt Annie Ernaux.
Die Ich-Form gibt dem Buch eine besondere Note. Ernaux’ andere Texte sind fast ausnahmslos entpersonalisiert. Namentlich «Erinnerung eines Mädchens» (2016, deutsch: 2018), worin sie ihr «Gedächtnis der Scham» anhand eines konkreten Vorfalls im Sommer 1958 beschreibt. Selbst im ausladenden Lebensrückblick «Die Jahre» (2008, deutsch: 2017) taucht kein «ich» auf. Dennoch ist Annie Ernaux auch dort jene «Ethnologin meiner selbst», deren Texte objektive Gültigkeit haben. Die bald 80-jährige Schriftstellerin arbeitet an einer Kartografie des Erinnerns und findet damit bis heute neue und mehrheitlich begeisterte Leserinnen und Leser. Denn wer die Essays von Annie Ernaux liest, erkennt darin immer ein Stück weit auch seinen eigenen Platz.
Buch
Annie Ernaux
Der Platz
95 Seiten
Aus dem Französischen von Sonja Finck
(Suhrkamp 2019)