Sich selber belügen ist am schlimmsten. «Der Arzt hat mir immer gesagt, dass ich der sensibelste Mensch bin, der ihm in seinem ganzen Leben begegnet ist.» Eine junge Posthalterin in der tiefsten Provinz des US-amerikanischen Bundesstaats Mississippi kommt zu dieser Selbsteinschätzung. Denn sie fühlt sich als Opfer ihrer engstirnigen Familie, in die sie allerdings mit ihrem Kleingeist exakt hineinpasst.
Feinfühlige Skizzen aus dem Alltag
Die US-amerikanische Schriftstellerin Eudora Welty (1909–2001) beschreibt diese prekäre Familienkonstellation in ihrer Kurzgeschichte «Warum ich auf dem Postamt wohne». Sie ist in einer Sammlung von 20 feinfühligen Alltagsskizzen neu bei Kein & Aber herausgekommen.
Die Postamt-Geschichte spielt an einem 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag der USA, wenn die patriotischen Gefühle besonders hochschlagen. Doch diese spielen in der Familie der Ich-Erzählerin, dem «Postfräulein», keine grosse Rolle. Viel wichtiger ist, dass ihre Schwester Stella nach einer Scheidung ins elterliche Haus zurückkehrt – mit einem Adoptivkind. In der Folge entspinnt sich ein familiärer Kleinkrieg, in dem alle sämtliche Register seelischer Verletzungen ziehen.
Alleinsein unter anderen Menschen
Die Autorin Eudora Welty ist in Europa nahezu unbekannt. Den grössten Teil ihres Lebens verbrachte sie in ihrer Geburtsstadt Jackson in Mississippi. Aus vermögender Familie stammend, studierte sie Literatur an der Universität von Wisconsin, liess sich zur Werberin ausbilden und engagierte sich während der grossen Depression für das staatliche Beschäftigungsprogramm Arbeitsloser. Vor allem aber war Eudora Welty Schriftstellerin und Fotografin. Sie hinterliess neben ihren Erzählungen sechs Romane und Bände mit ihren preisgekrönten Dokumentarbildern. Über ihr Privatleben ist wenig bekannt. Mit dem verheirateten Schriftsteller Ross Macdonald führte sie eine lange, platonische Beziehung. Eudora Welty war ein einsamer Mensch und glich damit den meisten ihrer Protagonisten. Alleinsein unter anderen Menschen ist ihr grosses Thema.
Das Innerste der Figuren bleibt ein Geheimnis
So auch in der Kurzgeschichte «Ein Vorhang aus Grün», deren Titel der Band trägt: Die alte Witwe Larkin lebt allein in ihrem Haus mit Garten, den sie liebevoll pflegt. In ihrer Einsamkeit verkennt sie den Unterschied zwischen Leben und Tod, sodass sie versucht, ihren jungen dunkelhäutigen Helfer zu töten: «So einen Kopf durfte sie mit voller Absicht abschlagen. Ganz tief war ihr bewusst, dass die Sterblichkeit der Menschen der Grund dafür war, dass sie so schnell vergessen wurden …» Nur ein Zufall rettet dem Jungen das Leben.
Eudora Welty ist eine begnadete Stilistin und eine unerbittliche Beobachterin: «Welty erklärt die Welt nicht, die sie so haarscharf zu beschreiben weiss, das Innerste ihrer Geschichten, vor allem ihrer Figuren, bleibt dem Leser ein Geheimnis», heisst es in der editorischen Notiz. Dennoch bringt sie ihrer Leserschaft die Mentalität und das Denken der US-Südstaatler näher – in allen widersprüchlichen Facetten.
Buch
Eudora Welty
Ein Vorhang aus Grün
Aus dem Englischen von Almuth Carstens, Katrine von Hutten
Dt. Erstausgabe: 2009
(Kein & Aber 2019)