Die Aufregung war gross nach dem Erscheinen von Thomas Hürlimanns Novelle 2001: Sein Onkel, der ehemalige Stiftsbibliothekar in St. Gallen, sah Persönlichkeitsrechte verletzt und verfasste eine elfseitige Richtigstellung gegen die «bösartigen Unterstellungen». Katholische Kreise wollten die Buchvernissage verhindern, und der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki verurteilte Hürlimanns Novelle als antisemitisch – was dieser überzeugend widerlegen konnte.
Aufgaben eines «Pantoffelministranten»
Und das alles wegen einer Geschichte rund um einen 12-jährigen Jungen, der in den 60ern einen träumerischen Sommer in der Stiftsbibliothek St. Gallen verbringt, bevor er in die Klosterschule in Einsiedeln eintritt. Der junge Ich-Erzähler berichtet von seiner Tätigkeit als «Pantoffelministrant am Portal zur Bücherkirche»: Seine Aufgabe ist es, den Gästen der Stiftsbibliothek Filz-Pantoffeln überzuziehen, um den kostbaren Boden des Saals zu schützen.
Misstrauisch wird er dabei von der Haushälterin, der stämmigen Appenzellerin Fräulein Stark, beäugt. Denn diese sieht, was der Onkel nicht bemerkt: Dem Jungen schwirrt der Kopf – von all den Waden und Fesseln, den Röcken, Nylonstrümpfen und unterschiedlichen Gerüchen der Besucherinnen, denen er die Pantoffeln überstreift. Nicht ganz zu Unrecht bezichtigt ihn das Fräulein Stark der «unkeuschen Blicke» unter die Frauenröcke. Dass sie dabei allerdings spitze Bemerkungen zu seiner jüdischen Herkunft austeilt, verwirrt ihn vollends. «Ihr Neffe ist ein kleiner Katz, da müssen wir besonders aufpassen», sagt sie zu seinem Onkel. Und so wird die Identitätssuche des Heranwachsenden auch zu einer Suche nach seiner Herkunft.
Thomas Hürlimann hat 1963 selbst einen Sommer in der Stiftsbibliothek unter der Fuchtel seines Onkels und dessen Haushälterin erlebt und später die Klosterschule in Einsiedeln besucht. Konsequent erzählt er aus der Perspektive des jungen Ich-Erzählers und schildert, welche Fantasie-Blüten die katholische Triebunterdrückung treibt.
Humorvoll-spitzzüngige Beschreibungen
Beim Blättern in einer 1000-jährigen Bibel etwa zieht der Onkel Handschuhe an – «schwarz wie die Dessous meiner Mama». Und auch die Eigenheiten des «ehrwürdigen Stiftsbibliothekars», der stets in einer fliessenden Soutane durch sein «Bücherhaus» rauscht, und seiner frommen Haushälterin leuchtet er mit dem naiven Kinderblick schonungslos aus. Während sich die Leser über die humorvoll-spitzzüngigen Beschreibungen amüsieren, sorgte das Buch bei den realen Personen für Unmut. Hürlimann selbst betonte bei all seinen autobiografisch geprägten Werken stets die künstlerische Freiheit: «Natürlich wird dabei etwas Privates öffentlich – aber es handelt sich um eine gestaltete Welt. Der Roman entfernt sich weit von dem, was wirklich war», sagte er etwa gegenüber der NZZ.
Auch in seinem neuen Theaterstück verknüpft der 66-jährige Autor Religiosität mit Erotik, wenn auch ohne autobiografischen Hintergrund: Für die Einsiedler Theatergruppe Chärnehus hat er die Komödie «De Casanova im Chloster» geschrieben, die im Oktober zur Uraufführung kommt.
Buch
Thomas Hürlimann
«Fräulein Stark»
Erstausgabe: 2001
Heute erhältlich im Fischer Verlag.