«Wie fünf Mädchen jämmerlich im Branntwein umkommen» Sittengemälde aus dem Emmental
Die freie Künstlergruppe 400asa und das Theater im Bahnhof Graz bringen ein Gotthelf-Musical auf die Bühne der Zürcher Gessnerallee – fernab von Schweizer Heimatidylle.
Inhalt
Kulturtipp 20/2011
Letzte Aktualisierung:
05.03.2013
Babina Cathomen
Die Texte des Emmentaler Pfarrers Jeremias Gotthelf (1797–1854) erfreuen sich auf Schweizer Bühnen nach wie vor grosser Beliebtheit. Auf den ersten Blick mag darum erstaunen, dass sich nun auch die für unkonventionelle Produktionen bekannte Theatergruppe 400asa einem Gotthelf-Text widmet. Mit der Erzählung «Wie fünf Mädchen jämmerlich im Branntwein umkommen» hat sie ein Stück ausgewählt, das die Eidgenössische Alkoholverwaltu...
Die Texte des Emmentaler Pfarrers Jeremias Gotthelf (1797–1854) erfreuen sich auf Schweizer Bühnen nach wie vor grosser Beliebtheit. Auf den ersten Blick mag darum erstaunen, dass sich nun auch die für unkonventionelle Produktionen bekannte Theatergruppe 400asa einem Gotthelf-Text widmet. Mit der Erzählung «Wie fünf Mädchen jämmerlich im Branntwein umkommen» hat sie ein Stück ausgewählt, das die Eidgenössische Alkoholverwaltung 2009 zur Prävention als Sonderdruck herausgegeben hat. Denn der Titel ist Programm: Den Mädchen Stüdeli (Meret Hottinger), Bäbi (Grazia Pergoletti), Marei (Nadine Vinzens), Lisabeth (Beatrix Brunschko) und Liseli (Wanda Wylowa) ergeht es im von Armut geprägten Emmental des 19. Jahrhunderts gar jämmerlich. Sie kommen aus prekären Verhältnissen und finden ihren Trost nur im Branntwein, dem sogenannten «Brönz». Alle fünf ereilt schliesslich ein böses Schicksal; Lisabeth überlebt, und dies auch mehr schlecht als recht.
Gotthelf en vogue
Der düsteren Milieustudie setzt 400asa viel Musik entgegen, die Frauen werden in einer Rock- und Popband aktiv (unter anderem mit Ex-Miss-Schweiz Nadine Vinzens als Marei am Schlagzeug). «Die Musik dient uns fünf Mädchen zur Katharsis», sagt 400asa-Schauspielerin Meret Hottinger, welche die Rolle von Stüdeli übernimmt. Gemäss Gotthelf können sich die Frauen allerdings nur retten, wenn sie «in frommer Zucht und Sitte zu Hause walten und den Kindern mit Beispiel und Wort einen frommen Sinn einflössen». Hottinger hält es für zu einfach, sich schlicht von Gotthelfs Moral abzugrenzen: «Wir versuchen, uns möglichst ohne Ironie, Gotthelfs Text anzueignen und daraus die Parallelen zu unserer gegenwärtigen Realität zu destillieren. Ein gewisser Trend zum gotthelfschen Frauenbild ist zurzeit durchaus wieder en vogue, gerade auch im urbanen Raum.»
Zur Vorbereitung hat sich die Künstlergruppe ins Emmental, die Heimat des 400asa-Gründungsmitglieds Samuel Schwarz, begeben. Hier haben sie unter anderem Gotthelfexperten aus Lützelflüh und eine auskunftswillige Heimatmuseumsleiterin getroffen, wie der Regisseur Ed Hauswirth erzählt. Diese Recherchen fliessen in die Inszenierung ein, die zwar nahe am Gotthelf-Text bleibt, aber mit den Beobachtungen auf dem Land kontextualisiert wird. «Wir sind dort auch auf gegenkulturelle Lebensformen gestossen, die uns zu einer Analogie zwischen freien Christen und freien Theatermachern inspiriert haben», erklärt Hauswirth. Co-Dramaturg Mathias Balzer ergänzt: «In unserer Inszenierung geht es aber auch um eine vergangene Schweiz und wie sie heute vereinnahmt wird. Das gotthelfsche Emmental ist ein ganz anderes als die Buu-
re-Zmorge-Heimattümelei der konservativen Schweiz.»
Wo der Schnaps hinführt
Bei der Umsetzung scheuen sich die Theatermacher nicht, die
populäre Form des Musicals zu wählen, welches Balzer als den «kulturellen Ausdruck dieses Vaterland-Heimwehs» bezeichnet. «Bei Gotthelfs Moralität drängt sich die Suche nach einer überhöhten Form geradezu auf», meint Hauswirth. Wo sie der Schnaps hinführt und welchen Kontrapunkt 400asa in Zusammenarbeit mit dem Theater im Bahnhof Graz zu den gängigen Gotthelf-Aufführungen setzen, ist in der Gessnerallee zu sehen.