Ist es ein Phänomen des 21.Jahrhunderts, die medial aufgeheizte Suche nach dem Super- oder Music-Star und diese Glorifizierung? Mitnichten! Als Van Cliburn 1958 den 1. Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb gewann, jubelte der Westen: Die Welt steckte mitten im Kalten Krieg, und die USA hatten die Sowjetunion im Fach Kultur geschlagen. New York ehrte Van Cliburn mit einer Konfettiparade, und neben den Cliburn-Pralinen verkaufte sich die Aufnahme von Tschaikowskys 1. Klavierkonzert besser als jede andere Klassik-LP. Alsbald sollte der Tschaikowsky-Wettbewerb regelmässig weltberühmte Künstler auf den Markt bringen. 1962 etwa war es Vladimir Ashkenazy, 1970 Gidon Kremer, 1974 Andrej Gawrilow, 1978 Michail Pletnew, 1982 Viktoria Mullova oder noch 1990 Akiko Suwanai.
Kaum mehr Weltstars
Der Tschaikowsky-Wettbewerb – er zählt mit dem Warschauer Chopin-Wettkampf und dem Brüsseler Concours Reine-Elisabeth zu den drei wichtigsten der Welt – ist von Mythen umwoben, Weltstars brachte er in den letzten 20 Jahren aber kaum mehr hervor. Ob all der Bemühungen, dem Wettbewerb etwa mit weltberühmten Jury-Mitgliedern wieder Relevanz zu geben, stellt sich die Frage: Werden Stars überhaupt noch an Wettbewerben geboren?
Hat Jury-Mitglied Martin Engstroem in Petersburg einen künftigen Weltstar gehört? Der Intendant des Verbier Festival verzieht das Gesicht und sagt: «Ich glaube nicht.» Wer die Halbfinale der Sänger mitverfolgt hatte, entdeckte gewaltige Stimmen, ob derer man am Stadttheater Bern jubeln würde. Doch Weltstars? In der Opernwelt gibt es andere Wege, berühmt zu werden. Der Schweizerin Rachel Harnisch verhalf der zweite Platz bei einem Wettbewerb einst zwar zu einem Engagement an der Wiener Staatsoper. Doch heute sagt sie: «Ich glaube nicht, dass es zwingend ist, an Wettbewerben teilzunehmen. Das Vorsingen für Claudio Abbado war mir ein grösseres Glück.»
Kommt hinzu, dass die Einschätzungen über Sänger weit auseinandergehen. Ob da ein Jury-Entscheid nicht viel eher ein Kompromiss ist? Im Petersburger Final kämpften auffallend viele Südkoreaner und Mongolen um den Sieg, Europäer und Amerikaner waren schon fast keine mit dabei. Fehlt es dem Wettbewerb doch an Attraktivität? Die 1934 geborene Scala-Legende und Jurorin Renata Scotto zuckt darob die Schultern. «Es gäbe gute italienische Sänger, ich selbst bilde sie aus. Die Oper ist italienisch, und zwar auf der ganzen Welt, nicht nur in Italien und Zurigo.»
Ruhm und Einsicht
Ein Sieg verspricht den Musikern Geld, aber was weit wichtiger ist: Weltweite Auftritte. Bis April 2013 reicht der Konzertplan für die Sieger. Am 21. November 2012 spielt der Klavier-Gewinner am Luzerner Pianofestival. Auf dem Papier werden so Karrieren eingeleitet. Und wer weiss, plötzlich springen auch die Plattenfirmen auf. Auf den Warschauer Chopin-Wettbewerbssieger hat die Deutsche Grammophon quasi ein Abo. Doch nicht immer erfüllt der Sieger oder die Siegerin die Wünsche der Plattenfirmen. 2010 erhielt nicht Yulianna Avdeeva den Vertrag, sondern der Zweite, Ingolf Wunder. Immerhin: Beide touren zurzeit um die Welt – für Avdeeva ist bald der Kleine Tonhalle-Saal in Zürich und für Wunder der Hans Huber-Saal in Basel reserviert.
Andrew Cornall, Vizepräsident beim Label EMI, sagt: «Wettbewerbe sind für uns ein Weg, Talente zu identifizieren. Auf Gewinner, die von einer namhaften Jury ausgewählt wurden, werfen wir ein Auge.» Für Ute Fesquet, Vizepräsidentin der Deutschen Grammophon, sind Wettbewerbe eine Gelegenheit, sich einen Eindruck vom «State of the art» des Nachwuchses zu verschaffen. Nicht zuletzt vertraut Fesquet zudem auch auf den Rat von Anne-Sophie Mutter, die beim Tschaikowsky-Wettbewerb in der Jury sass.
Die Geigerin relativiert allerdings die Bedeutung der Wettbewerbe: «Eine Garantie auf eine Karriere gibt es nicht. Erste Preisträger gibt es mehr als grosse Solisten, die dann jahrzehntelang Erfolg haben.» Wettbewerbe sieht sie denn vor allem auch als einen Treffpunkt für junge Kollegen, die sich international austauschen und schauen, was es an Lehrern und Schulen gibt, wie sie sich unterscheiden. Dann nennt sie einen entscheidenden Punkt: Nicht immer Ruhm ist es, den einer am Wettbewerb findet, sondern vielmehr Einsicht. «Jeder Finalist muss und kann sich fragen: Will ich das? Bin ich dafür geschaffen? Kann ich dem Druck standhalten? Habe ich genügend zu sagen? Bin ich technisch frei oder noch ein Gefangener, ja, werde ich immer einer sein? Ein solcher Wettbewerb ist dann vielleicht auch der Moment, die Ziele neu – ja tiefer – zu stecken.»
Nebenbei: Klavier-Sunnyboy Van Cliburn wurde in den 60er-Jahren zum Idol einer Generation – und verschwand dann still und leise.
[CD]
Yulianna Avdeeva
Chopin (Narodowy Institut Fryderyka
Chopina 2011).
[/CD]