Der Dialekt sei die Sprache des Herzens, die eigentliche Muttersprache, heisst es. Nicht umsonst nennen wir unser Schweizer Hochdeutsch, das wir fast nur im schriftlichen Verkehr verwenden, Schriftdeutsch. Im mündlichen Umgang ziehen wir die Mundart vor. Selbst in der Schule kann es vorkommen, dass ein entnervter Lehrer aus der Standardsprache zwischendurch in den Dialekt verfällt, aufs Pult schlägt und ruft: Jetz isch Gopfried Stutz gnueg gschnäderet … Im Radio wird Hochdeutsch fast nur noch für die Nachrichten und Informationssendungen verwendet. Eine Ausnahme ist der Kulturkanal Radio SRF 2, wo man sich der Standardsprache verpflichtet fühlt. Und auch in der Kirche, wo es feierlich zu- und hergeht, betet der Pfarrer nicht so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Weshalb eigentlich? Offenbar war Hubert Theler aus Naters der Meinung, dass der liebe Gott auch Mundart versteht, und so nahm er sich vor, das Neue Testament, das bisher in 1432 Sprachen vorliegt, um eine wallisertitschi Version zu bereichern.
Üsserschwiizer haben oft eine Heidenmühe, ihre Miteidgenossen ennet dem Lötschberg zu verstehen. Das liegt daran, dass das Wallisertitsch, aufgrund seiner isolierten Lage zwischen zwei mächtigen Gebirgen, gewisse Lautverschiebungen, die das Schweizerdeutsch in den vergangenen Jahrhunderten vollzogen hat, zum Teil nicht mitmachte und deshalb bei einigen typisch alt- und mittelhochdeutschen Lautmerkmalen verharrte (etwa Hüs, Hiischer im Gegensatz zu Huus/Hüüser). Auch haben sich einzelne sehr alte Wörter erhalten, wie etwa das zungenbrecherische Goggwärgini (Zwerglein) oder Nool (Narr).
Für die bestenfalls noch 90 000 Menschen, welche Wallisertitsch sprechen. kann das von Hubert Theler übersetzte Niww Teschtamänt identitätsstiftend sein. Zehn Jahre arbeitete er daran. Erschwerend ins Gewicht fiel, dass es für Wallisertitsch, anders als etwa wie für den Zürcher, Berner oder Basler Dialekt, keine Grammatik gibt, welche eine einheitliche Schreibweise regelt. Kommt hinzu, dass es regional voneinander abweichende Dialekte gibt. Ein Saaser spricht anders als ein Gommer, und von einem Leetscher wollen wir schon gar nicht reden. Tatsächlich geht das so weit, dass der geübte Zuhörer je nachdem ableiten kann, aus welchem Dorf sein Gegenüber stammt.
Hubert Theler musste also nicht nur entscheiden, wie er die einzelnen Wörter schreibt (er wählte eine phonetische Version), er musste sich auch auf eine der zahlreichen Dialektvarianten festlegen. In seinem Fall war das die Mundart, die man im Gebiet um Raron, Ausserberg und Gampel spricht, wo er aufgewachsen ist.
Übersetzen heisst auch interpretieren, in diesem Fall: Die überlieferte, zum Teil pathetische Sprache der Bibel so ins Wallisertitsch zu übertragen, dass die Atmosphäre, der Sinn erhalten bleibt. Wenn für Hubert Theler der kleine Jesus in seiner Baarna (Krippe) kein Mämmi (Säugling) ist, sondern ein Chind, oder wenn er für den Zwölfjährigen im Tempel das Wort Büäb verwendet und nicht das gröbere, aber durchaus übliche Botsch, so hat das damit zu tun, dass ihm diese Ausdrücke für den Gottessohn angemessener erscheinen.
Aber werfen wir doch einen Blick in Ds Niww Teschtamänt. Wenn Jesus die verängstigten Jünger auf dem stürmischen See Genezareth rügt, weil sie ihn aus dem wohlverdienten Schlaf wecken, tönt das so: Was sit de iär fär Hosuschiissär, iär mit ewwum chleinu Glöübo! Ein weiteres Beispiel gefällig? Beim Weltengericht seit där Mäntschusoon z denä lings va im: Iär sit värflüacht, äwägg mit eww ins ewig Fiir, wa gigrächots ischt fär du Tiifil und schiinu Ängla! Auch dem Üsserschwiizer, der sich den Text halblaut vorliest, wird rasch deutlich: Durch das Wallisertitsch erhält die Bibel eine ganz neue Qualität. Die Erzählungen werden farbiger, unmittelbarer, erfahrbarer. Es ist zu wünschen, dass Eltern und Grosseltern im Wallis ihrem Nachwuchs die biblischen Geschichten in der thelerschen Fassung vorlesen.
Das Wallis ist das Land der Kirchen, Kapellen und Bildstöcke, in denen der Heiland, die Muttergottes und die lieben Heiligen verehrt werden. Aber auch Widder- und Hirschschädel starren aus leeren Augenhöhlen von den Fronten der von der Sonne verbrannten Häuser aus Lärchenholz. Noch bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts glaubten viele an den Gratzug, die Totenprozession, in der die Verstorbenen barfuss und seufzend ihre Sünden im ewigen Eis der Gletscher verbüssten und auf Erlösung hofften. Kein Wunder, gibt es hier zahlreiche Bozen-(Gespenster)Geschichten, die man sich beim Abusitz erzählte. Auch wenn man heute, wie mir kürzlich ein Gommer versicherte, eher römisch als katholisch sei, so lässt sich noch immer erkennen, dass sich im Oberwallis vorchristliche Überlieferung und christlicher Glaube zu einer besonderen Form der Volksfrömmigkeit verbunden haben.
Hubert Thelers Wallisertitsch spiegelt diese archaische Kulturlandschaft. Seine Übertragung des biblischen Textes ist eine beeindruckende Leistung, die nicht hoch genug geschätzt werden kann. Es ist im eigentlichen Sinne des Wortes Mund-Art vom Feinsten. Nein, er kann den Wandel seiner Muttersprache, wo aus der Pfiiffoltra längst ein Schmetterling geworden ist, und in der sich, wie im übrigen Schweizerdeutsch, Anglizismen breit machen, nicht aufhalten. Aber er schenkt jenen, die nach uns kommen und dafür ein offenes Herz haben, eine Vorstellung, wie man damals im «alten Wallis» gesprochen hat. Übrigens ist Hubert Theler noch nicht am Ende seines Weges. Inzwischen liegt auch Där Psalter uf Wallisertitsch vor. Weitere Bücher des Alten Testaments werden folgen.
Wenn Hubert Theler dereinst (möge es noch lange dauern) an die Himmelspforte klopft, so stelle ich mir vor, wie ihn Petrus mit den Worten empfängt: Flott, dass värbii lüägscht, und dann setzt der Apostelfürst augenzwinkernd hinzu: Dank diär redot där Herrgott äntli öü Wallisertitsch.
Textauszüge aus Hubert Theler: Ds Niww Teschtamänt
(Rotten Verlag AG Visp 2011)
Werner Ryser
Der Basler Schriftsteller machte sich mit historischen Romanen wie «Walliser Totentanz» oder «Das Ketzerweib» einen Namen. Zuletzt thematisierte der 1947 geborene Autor in seinem Roman «Die Revoluzzer» die Gegensätze zwischen der Stadt Basel und der Landschaft im 19. Jahrhundert an.