Ein Albtraum im Oberwalliser Dorf Ernen. «Der Henker stiess die brennende Fackel in den Scheiterhaufen. Zuerst Rauch, dann schossen Flammen empor, die gierig nach den Füssen Marias leckten. Unter dem Gelächter der Menge versucht sie schreiend, sich loszureissen …» Die Analphabetin Maria Zussen landete dort, nachdem ihr Geliebter ihren Ehemann erschlagen hatte, mit dem sie zwangsverheiratet war. Die katholische Kirche wollte es so, und ihre Würdenträger hatten das Sagen im Oberwallis des 15. und 16. Jahrhunderts.
Unerbittlicher Kampf
Das ist eine Episode im Roman «Walliser Totentanz» des Basler Schriftstellers Werner Ryser. Er zeichnet ein erschütterndes Bild des Oberwallis, als der Aberglaube noch allgegenwärtig war. Trotz der Erkenntnisse der Neuzeit und erster Anzeichen der Reformation. Das Wallis war eine Schnittstelle in der machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen dem Papst und Spanien einerseits sowie dem französischen König anderseits. Kardinal Matthias Schiner und der Politiker Jörg «Supersaxo» uff der Flue waren die Walliser Kontrahenten in diesem unerbittlichen Kampf, unter dem vornehmlich das Volk zu leiden hatte. Als wäre das nicht genug des Elends, wurde das Obergoms wie das restliche Europa regelmässig von Pestseuchen heimgesucht.
Werner Ryser hat ein monumentales Werk geschrieben, das Anerkennung findet. Nicht nur im Wallis, auch die NZZ schreibt respektvoll: «Mit grosser historischer, geografischer und kultureller Detailtreue liefert der Autor den bunten Teppich zu den trockenen Daten.» Etwa zur Schlacht von Marignano 1515, die letztes Jahr zu einem ideologischen Zankapfel des helvetischen Selbstverständnisses wurde. Ryser entzieht sich der politischen Vereinnahmung. Ihm dient die Auseinandersetzung vielmehr als Erklärung für die menschlichen Dramen, die sich im engen Kosmos der Oberwalliser Dörfer abspielten, die zwischen den Loyalitäten zu den Matadoren Schiner und Supersaxo pendelten.
Liebe zum Altarbauer
Der Autor schrieb zuerst für einen Walliser Verlag eine Fassung seines «Totentanzes». Dieser war bald vergriffen und erschien dann gekürzt bei Nagel & Kimche. Ryser hat zuvor drei Bücher geschrieben und wird diesen Herbst ein neues herausgeben über die Emmentaler Täuferbewegung im 16. Jahrhundert. Er arbeitete jahrelang in Sozialberufen, heute ist er Redaktionsleiter des Basler Pro-Senectute-Organs «Akzente Magazin». Seit seiner Jugend weilt er regelmässig im Oberwallis und besitzt ein Haus im Dorf Münster, wo der «Totentanz» hauptsächlich spielt.
Im Mittelpunkt der Handlung steht die fiktive Kräuterfrau und Hebamme Magdalena Capelani. Ryser zeichnet ein feinfühliges Porträt einer eigenständigen, alleinerziehenden Mutter, die sich in dieser hierarchischen, von Aberglauben geprägten Welt durchzusetzen versteht. Er verbindet sie mit dem tatsächlichen Tod der drei Schwestern Elsa, Anna und Maria, die als Hexen verbrannt wurden.
«Ich bin in einem Archiv auf deren Schicksal gestossen, es hat mich während Jahren beschäftigt», sagt Werner Ryser im Gespräch vor dem Liebfrauenkirchli in Münster. Dieses Gotteshaus dient ihm als Fixpunkt der verschiedenen Handlungsstränge: So stammt der spektakuläre Altar aus der Luzerner Werkstatt des Bildhauers Jörg Keller, einem Künstler, dessen Leben ebenfalls verbürgt ist. Ryser verknüpft Keller mit seiner Hauptfigur Magdalena Capelani, die in dem Altarbauer ihre grosse Liebe fand. Leider war er schon verheiratet, wenn auch mit einer zänkischen Frau.
Das Oberwallis ist bis heute eine exotische Ecke der Schweiz geblieben: Postkartenlandschaft mit Menschen, die einen eigentümlichen Dialekt pflegen und der politischen Avantgarde weniger als andere zuneigen. Laut Ryser kam sein Roman bei den Wallisern gut an: «Ich wurde stets wohlwollend darauf angesprochen.» Lediglich im Kirchenchor von Münster seien «ein paar kritische Stimmen laut geworden, die sich um das Geschichtsbild der katholischen Kirche sorgten». Trotz des Zuspruchs fühlt sich Ryser noch heute nicht als Einheimischer im Goms: «Man bleibt ein Zugezogener, ein Fremder.»
Berührend
Ryser hat einen Roman geschrieben, der Fiktionales und Archivmaterial geschickt verknüpft. Er versteht es virtuos, den Leser für diese menschlichen Schicksale zu sensibilisieren. Wer dieses Buch liest, nimmt am Leben von Bauern und Söldnern teil, das zwar vor 500 Jahren stattfand, deren Geschichten aber noch heute berühren. Das macht diesen Roman zu einem Leseerlebnis.
Buch
Werner Ryser
«Walliser Totentanz»
591 Seiten
(Nagel & Kimche 2015).
Lesereisen
Rundgang mit vorgelesenen Romanpassagen
Fr, 23.9.–So, 25.9.
Fr, 14.10.–So, 16.10.
Anmeldung: www.obergoms.ch