In seiner Abhandlung wirft Werner Fuld manches Vorurteil über Bord. Die erotische Literatur sei keineswegs nur Männersache. Bis zur bürgerlichen Prüderie zu Beginn des 19. Jahrhunderts standen grossteils Frauen dahinter, die für ein weibliches Publikum schrieben – meist «als Beitrag zur sexuellen Aufklärung oder als Ratgeber für kluges weibliches Verhalten in verfänglichen Situationen». Der Autor macht in der erotischen Literatur gar emanzipatorische Impulse aus.
Zahlreiche illustre Beispiele untermauern diese These: Zum Beispiel die dichtende Kurtisane Tullia d’Aragona (1510–1556), die in ihrem Liebestraktat «Dialogo dell’Infinità d’Amore» die Frauen ermutigte, beim Liebesspiel selbst aktiv zu werden. Die kluge und selbstbewusste Kurtisane führte ein glanzvolles Leben in Italien, verarmte jedoch im Zuge der Gegenreformation, welche die Sittenlosigkeit anprangerte.
Deftig bis romantisch
Der 67-jährige Autor Werner Fuld zieht keine Grenzen zwischen dem Sinnlichen, dem Erotischen, dem Obszönen oder dem Pornografischen. So stehen deftige Textbeispiele neben romantischen, frauenfeindlichen oder emanzipatorischen, blumig oder explixit formulierten. Bekannte Akteure wie Marquis de Sade, Casanova (siehe S. 31) oder Arthur Schnitzler, aber auch viele unbekannt Autorinnen und Autoren haben ihren Auftritt.
Eine weitere These führt Fuld im Kapitel «Das deutsche Trauerspiel» aus: Im erotischen Bereich kann die deutschsprachige Literatur nicht mit den Franzosen, Italienern oder Engländern mithalten. «Sie können alles, ausser Erotik. Wie alle unbegabten Praktiker sind die deutschen Dichter Meister der Theorie und der Systematik.» Und das gelte nicht nur für die Deutschen: «Ich habe keinen einzigen Schweizer Erotikroman gefunden während meiner Arbeit am Buch», sagte Fuld dem «Tages-Anzeiger».
Zur deutschsprachigen «Ehrrettung» trägt ausgerechnet Goethe bei, der in jungen Jahren Unmanierliches verfasste: «Und ich hab keinen Appetiet/ Als ich nähm gern Ursel auf n Boden mit / Und aufm Heu und aufm Stroh / Jauchzten wir in dulci iubilo», lässt er etwa seinen Protagonisten in «Hanswurts Hochzeit» munter dichten.
Fuld nimmt kein Blatt vor den Mund. Schlecht kommen bei ihm etwa die katholische Kirche und die christliche Religion weg: «Sie erzeugt Sünder und schlechtes Gewissen.» Als positiven Gegenentwurf nennt er Vatsyayanas «Kamasutra» aus der Hindu-Tradition. Der indische Autor wusste schon circa 200/300 n. Chr., was in der körperlichen Liebe zählt. Die Einfühlung in die Psyche einer jungen Frau unterscheide Vatsyayanas Werk von allen anderen Ratgebern, besonders von Ovids «Liebeskunst», der die sexuell motivierte Gewalt gegen Frauen in der europäischen Liebeslehre verankert habe, schreibt Fuld.
Trouvaillen inklusive
Fehlen darf auch der Erotik-Bestseller unserer Zeit nicht: E.L. James’ «Shades of Grey». Fulds Kritik ist vernichtend: «Die Chicklit ist mit dieser Romantic Hardcore wieder dort angekommen, wo die erotische Literatur begonnen hatte – als Ratgebertext, leider auf dem untersten, anti-emanzipatorischen Niveau.»
Sein erotischer Rundgang ist manchmal ausufernd, aber meist unterhaltsam. Fuld betont, dass er nicht als Wissenschaftler schreibe, sondern als Liebhaber der schönen Künste. Schlüssig verbindet er die Texte mit dem gesellschaftlichen Hintergrund, macht überraschen-de Verbindungen und fördert skurrile, amüsante oder erschreckende historische Tatsachen und literarische Trouvaillen zutage. Und er macht deutlich, wie kontraproduktiv die Unterdrückung solcher Literatur ist und zu extremeren Auswüchsen geführt hat. Sein Fazit: «Denn die Sünde, das lehrt uns die Geschichte der Apfelpflückerin, ist ein unabdingbares Element des Fortschritts, an dessen Wegrändern die Prüden sitzen und lamentieren.»
Werner Fuld
«Eine Geschichte des sinnlichen Schreibens»
538 Seiten
(Galiani-Verlag )