Beim älteren Paar auf der Bühne fliegen die Fetzen. Vorwürfe prasseln nieder, enttäuschte Erwartungen flammen auf. Schliesslich herrschen Stille und Resignation. Marta (Barbara Schneider) und Balzer (Peter Jecklin) sind in melancholischer Stimmung: Nach vielen Jahrzehnten verlassen sie ihr Dorf in den Bündner Bergen und ziehen zu den Enkelkindern ins Unterland. Nun stehen sie im leer geräumten Laden, den Marta geführt hatte. Und sie erinnern sich, wie der Untergang des Dorflebens begann: Der Chor hatte plötzlich zu wenig Mitglieder, die Schule musste schliessen, der «Hirschen» wurde liquidiert, der Dorfladen rentierte nicht mehr, die Messe fand nur noch einmal im Monat statt. Überalterung und Abwanderung führten zu einer Gemeindefusion, wie Balzer resümiert. Die Hoffnung, dass Junge mit ihren Familien zurückkehren, war vergeblich. «Wer einmal weg ist, kommt nicht wieder», weiss Marta.
Treffpunkte fallen weg
Im Stück «Der Dorfladen», das im Theater Chur zur Uraufführung gelangt, beschäftigt sich Regisseur Roman Weishaupt mit einem Thema, das in Bergkantonen für viel Gesprächsstoff sorgt. Der 37-Jährige aus Degen im Val Lumnezia, der inzwischen in Chur lebt, spricht aus eigener Erfahrung: Schule, Post und beide Dorfbeizen wurden 2003 in Degen geschlossen, zehn Jahre später war die Fusion mit anderen Gemeinden unabwendbar. «Bei der Generation meiner Eltern habe ich grosse Resignation gespürt. Mich hat die Frage beschäftigt, was mit einer Gemeinschaft passiert, wenn sich die Strukturen ändern und es im Dorf keine Treffpunkte mehr gibt», sagt er in der Probenpause.
Für sein Stück hat er mit Bewohnerinnen und Bewohnern zwischen 40 und 80 Jahren im Val Lumnezia, Val Müstair, im Schanfigg oder in Waltensburg Gespräche geführt. In den Dörfern, in denen die Fusion schon länger zurücklag, hatten sich die Menschen meist mit den Veränderungen abgefunden: «Es isch halt so», war dort der Tenor.
Beschreibung einer Stimmungslage
Überall hat Weishaupt aber ähnliche Sorgen wahrgenommen. Die Angst etwa, dass die Dorfgemeinschaft und die Identität verloren gehen. Einige haben sich aktiv gegen diese Entwicklung gestemmt, Pro-Gemeinde-Vereine gegründet oder Chroniken geschrieben, welche die Geschichte des Dorfes dokumentieren. Andere haben sich für Treffpunkte engagiert, indem sie in die private Stube zum Jassen einluden oder ein kleines Café einrichteten, wie der Regisseur erzählt. Bei der Frage aber, wie wieder mehr Arbeitsplätze geschaffen werden können, um das Leben in einem Dorf für Jüngere attraktiver zu gestalten und die Abwanderung aufzuhalten, gehen die Meinungen auseinander. «Man probiert vieles, aber es ist nicht so einfach», sagt Regisseur Weishaupt lakonisch. Die Diskussionen rund um die Olympia-Kandidatur oder den Parc Adula zeugen etwa von dieser Uneinigkeit. In seiner Inszenierung geht er weniger auf Lösungen ein, sondern zeigt den jetzigen Zustand und die vorherrschende Stimmungslage auf.
Eine Dorf-, aber auch eine Ehegeschichte
Der Glarner Autor Tim Krohn, der seit wenigen Jahren mit seiner Familie im abgelegenen Bündner Dorf Santa Maria im Val Müstair lebt, hat aus den Interviews von Roman Weishaupt das Theaterstück «Der Dorfladen» geschaffen. Die Erzählung von Marta und Balzer, die ihre Heimat aufgeben müssen, ist auch eine Ehegeschichte. In 40 Jahren haben sich trotz aller Liebe die Pflichten, Abhängigkeiten, Streitpunkte angehäuft. Zärtliche Momente wechseln im Stück mit entnervten Wortgefechten. Mit der Situation gehen sie unterschiedlich um. Marta steht der Fusion zwar kritisch gegenüber: «Die mauscheln da unten irgendwas, und wir sollen es schlucken.» Aber für die Fortführung ihres Dorfladens hat sie sich eine unkonventionelle Lösung ausgedacht. Balzer indes hadert mit seinem Schicksal. Als ehemaliger Gemeindepräsident, Lehrer und Chorleiter hat er plötzlich keine Funktion mehr. Schlimmer noch: Die Gemeinschaft besteht nicht mehr, alles, was er aufgebaut hat, war für die Katz.
Reflexion über die eigene Vergänglichkeit
Im leer geräumten Dorfladen, den das Ausstattungsteam Remo Arpagaus und Gianina Flepp für die Bühne geschaffen hat, setzt sich das Ehepaar mit ihrem Leben im Dorf auseinander – eine Reflexion über ihre eigene Vergänglichkeit. Aus dem Kühlraum dringt derweil immer dichterer Nebel. Und wenn dazu plötzlich die Dorf-Blechmusik aufspielt, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Illusion, ein Erinnerungsraum entsteht. Dazu hat die Bündner Künstlerin Ester Vonplon, die in ihren Arbeiten oft mit dem Thema Vergänglichkeit arbeitet, Bildprojektionen geschaffen. Archivfotos und -filme aus dem früheren Dorfleben treffen auf aktuelle Fotografien und Filme, die Vonplon eigens für diese Inszenierung gemacht hat. Und so vermischt sich Vergangenheit mit der Zukunft; der Blick wird frei für unterschiedliche Lebensformen.
Der Dorfladen
Premiere: Sa, 28.1., 20.00
Theater Chur
Nach den Aufführungen in Chur sind in der Saison 2017/18 weitere Gastspiele in Graubünden sowie in anderen Bergkantonen geplant, u.a. im Theater Uri in Altdorf.
Infos unter: www.theaterchur.ch und www.romanweishaupt.ch