Ist er misstrauisch? «Sind Sie Journalist oder Musikkritiker?», fragt Sir Roger im Künstlerzimmer, seinen Salat von sich schiebend. Die Antwort, ein moderner Musikkritiker müsse ein guter Journalist sein, gefällt dem gross gewachsenen 80-jährigen Briten. Wo andere schwurbeln, spricht er klar und ehrlich. Fast ists, als lebe er sein musikalisches Credo auch im Gespräch: Interpretiere Musik nicht, spiele sie!
«Zuckerfreie Diät»
Wie der 84-jährige Nikolaus Harnoncourt gehört auch Sir Roger Norrington zu den Pionieren der historischen Aufführungspraxis. Zu jenem kleinen Kreis, der es schaffte, mit dem historisch informierten Musizieren die grosse Klassikwelt zu erobern – mit dem Spiel auf Darmsaiten, dem Quellenstudium und den nachgebauten Original-Instrumenten. Norrington wurde berühmt für das vibratolose – oder vibratoreduzierte – Spiel: Der Streicherklang wurde also nicht durch das kunstvolle Zittern der Finger romantisch aufgeladen und damit glänzender, sondern verblieb in seiner bescheidenen Unschuld.
Über den Sinn und den Unsinn streiten will man mit ihm nicht mehr. Zu viel hat Norrington mit seinem Eifer bewegt, zu viele zum Denken angeregt. Famos. Überall, wo er hingehe, spiele man heute ohne Murren vibratofrei. «Ich muss nicht gegen die Welt sein. Wir spielen nicht vibratofrei, weil es korrekt ist, sondern weil es schön ist.»
Die «zuckerfreie Diät» auferlegte er zuerst barocken Werken, dann gings bis ins 20. Jahrhundert, bis zu den Sinfonien Gustav Mahlers. «Es war jedes Mal, wie Amerika zu entdecken», erinnert sich Sir Roger Norrington. «Wir wussten nicht, was rauskommen würde. Wir öffneten Türen, und da stand ein neues Stück. Whow, es war Beethovens Neunte.»
Fünf Konzerte
Als ihn das Zürcher Kammerorchester (ZKO) 2011 zum Principal Conductor machte, staunte man dennoch. Der bereits in die Jahre gekommene Alte-Musik-Star verpflichtet sich beim nach Sinn und Zuschauern suchenden ZKO? Auf die Frage, warum er es denn tun würde, sagte er dem «Tages-Anzeiger»: «Ich brauche das Geld.» Dabei lächelte er bestimmt auf den Stockzähnen. Allzu viel Geld wird er in Zürich nicht bekommen, denn er dirigiert zu selten. Fünf Konzerte werden es diese Saison sein – und dabei wagt er es, nichts anderes als Mozart aufzuführen. Heute schon fast revolutionär.
«Im ersten Zürcher Jahr dirigierte ich Strawinsky. Die Leute kamen nicht so zahlreich», erklärt Norrington. «Im zweiten versuchte ich es mit Britten. Die Zürcher waren geschockt.» Im dritten Jahr habe er Haydn dirigiert, darunter auch unbekannte Werke. Und wieder sei der Saal nur halb voll gewesen. «Immerhin mit begeisterten Menschen», sagt Norrington und fügt hinzu: «Jetzt probieren wir es mit Mozart: Ich will fünfmal ein volles Haus. Wenn es mit Mozart nicht klappt, gehe ich.»
Er sagt den Satz wirklich, aber lächelt sanft dazu. Auf die Anmerkung, dass er es noch mit Beethoven probieren müsste, lässt er durchblicken, dieser sei bereits für die fünfte Zürcher Saison programmiert. Dann allerdings dirigiert er nur noch als Gast des Orchesters.
Mit Sarkasmus
Er liebt das ZKO als Mozart-Orchester. Je mehr die Orchester historisch informiert seien, umso besser für ihn. «Diese Musik wurde im 18. Jahrhundert geschrieben. Sie brauchen dafür eine andere Sprache, da gibt es Regeln. Das ist wie beim Autofahren: Sie fahren hier rechts – links wirds gefährlich. Wer den Regeln folgt, kann frei leben!» Hört er Mozarts Opern auf traditionelle Art gespielt, ists für ihn wie ein Essen beim Fastfood-Riesen McDonalds.
Wenn Norrington so frisch parliert, könnte man sein Alter fast vergessen. Doch mitten im Gespräch stockt er und sagt: «Haben Sie gehört, dass Christopher Hogwood gestorben ist?» Ein Weggefährte von ihm, einer der britischen Protagonisten der historischen Aufführungspraxis. «Bruggen, Hogwood, Mackerras, Davies, Abbado – alles Freunde, alle sind sie vor kurzem gestorben.» Melancholie? Er entgegnet ihr mit Sarkasmus. «Das Feld wird frei: Ich kann vorwärtsgehen.» Doch schon fünf Sätze später sagt er über seine Pläne: «Ich muss mich beeilen, ich bin 80.»
Jetzt, wo seine Wege ausgeschritten sind, will er sein Wissen weitergeben. Wichtig ist ihm, dass die Jungen über die historischen Kenntnisse informiert werden. «Das wäre keine Hexerei, man muss dafür nicht ins Kloster und 20 Jahre ohne Sex leben. Man kann das rasch und einfach lernen.» Nächstes Jahr will er alles in einem Buch erklären.
CDs
Mozart (Sony 2014).
Strawinsky (Sony 2013).
Vienna 1789 (Berlin Classics 2013).
ZKO-Konzerte mit Sir Roger Norrington
Jeweils 19.30 Tonhalle Zürich
Di, 25.11.: Mit Albrecht Mayer, Oboe
Di, 27.1.: Mit Francesco Piemontesi, Piano
Sa, 28.3.: Mit Arabella Steinbacher, Violine
Di, 23.6.: Mit James Galway, Flöte
Nächstes Konzert (nur ZKO)
Sa, 8.11.:
Mit Simone Kermes, Sopran