Wenn Dirigenten die Zweisamkeit stören
Die «Moskauer Virtuosen» sind auf Schweiz-Tournee. Vivaldis «Vier Jahreszeiten» dirigiert die Geigerin Sarah Chang. Ein Trend unter jungen Starsolisten.
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Kulturtipp 09/2012
Christian Berzins
Wozu braucht es den Dirigenten? Das fragen sich bisweilen nicht nur Laien, sondern auch immer mehr selbstbewusste Solisten. So steht bei der Migros-Classics-Tournee der Kammerformation «Moskauer Virtuosen» zwar ein Dirigent bereit, doch Solistin Sarah Chang (*1980) wird Vivaldis «Vier Jahreszeiten» ohne ihn bestreiten. Und sie ist nicht allein. Kennt Meistergeigerin Julia Fischer (*1983) ein Orchester gut, schlägt sie als Solistin trotz Dirigent so manchen üb...
Wozu braucht es den Dirigenten? Das fragen sich bisweilen nicht nur Laien, sondern auch immer mehr selbstbewusste Solisten. So steht bei der Migros-Classics-Tournee der Kammerformation «Moskauer Virtuosen» zwar ein Dirigent bereit, doch Solistin Sarah Chang (*1980) wird Vivaldis «Vier Jahreszeiten» ohne ihn bestreiten. Und sie ist nicht allein. Kennt Meistergeigerin Julia Fischer (*1983) ein Orchester gut, schlägt sie als Solistin trotz Dirigent so manchen überraschenden Haken. «Mit dem Zürcher Tonhalle-Orchester kann ich es mir leisten, bei einer Phrase meinen eigenen Weg zu gehen», sagt sie. «Ich weiss, dass die bei mir sind, mir alle folgen werden. Mit so einem Orchester verschieben sich die Grenzen.» Wer es sogar wagt, Grenzen zu überschreiten, dirigiert das Orchester gleich selbst.
Die historisch informierte Aufführungspraxis, welche die Orchester kleiner werden liess, machte daraus einen Trend: Flötisten wie Maurice Steger, Pianisten wie Rudolf Buchbinder, Cellistinnen wie Sol Gabetta oder Geiger wie Giuliano Carmignola stehen heute vor den Orchestern und leiten Konzerte von Mozart, Haydn oder Vivaldi selbst. Fast alle betonen allerdings, dass sie bloss ein «Primus inter pares» seien. Das Understatement hat zur Folge, dass die Orchester an Selbstbewusstsein gewinnen. Das Resultat sind belebte, wache Partnerschaften.
Orchester als Partner
Selbst die Überfigur Anne-Sophie Mutter (*1963) spielte zum Mozart-Jahr 2006 dessen Violinkonzerte mit dem London Philharmonic Orchestra ein und versicherte, dass sie diese erfahrenen Musiker nicht dirigiere, sondern bloss leite. Julia Fischer tat es ihr bald gleich. Vor einem Jahr tourte sie, die Academy of St. Martin in the Fields «leitend», durch die Schweiz – am Konzertabend mal vor dem Orchester, mal im Orchester vom ersten Pult aus.
Nicht alle wollen das: Die aufstrebende Vilde Frang (*1986) denkt zwar überaus orchestral, meint aber, es sei für sie zu früh, ein Orchester selbst zu dirigieren. Nichtsdestotrotz antwortet die Norwegerin auf die Frage, ob das Orchester oder der Dirigent ihr der wichtigere Partner sei: «Das Orchester!»
Die Deutsche Isabelle Faust (*1972) denkt ebenfalls zuerst ans Orchester, dann an den Dirigenten. «Wenn da wirklich eine Partnerschaft besteht, kann ich auch mal direkt mit der zweiten Flöte kommunizieren und muss nicht den Umweg über den Dirigenten nehmen. Alle Dirigenten lassen das aber nicht zu.»
Das tönt auch Vadim Repin (*1971) an, ein Geiger, der nicht nur seine Solo-Stimme, sondern wie der Dirigent die ganze Partitur einstudiert. Er relativiert jedoch: «Gute Dirigenten können damit umgehen, denn es herrscht eine neue Freiheit auf der Bühne, wenn wir auf diese Art in einen Dialog treten.»
Sarah Changs Weg
Das macht auch Sarah Chang. Kein Wunder: Diese Geigerin ist trotz Püppchen-Image einen eigenständigen Weg gegangen. Das Klischee der technisch perfekten, aber seelenlosen Asiatin ist falsch. Changs Eltern stammen zwar aus Südkorea, sie aber wurde in Philadelphia geboren und ist Amerikanerin.
Als Chang für EMI die «Vier Jahreszeiten» auf CD einspielte, suchte sie sich dafür bezeichnenderweise das Orpheus Chamber Orchestra aus, eine Formation, die jeweils ohne Dirigent spielt. Der Austausch zwischen Solistin und Orchester war geradezu physisch spürbar. Ein Dirigent jedoch hätte diese Zweisamkeit nur stören können.
[CD]
Sarah Chang
Antonio Vivaldi:
Vier Jahreszeiten
(EMI 2007).
[/CD]
[CD]
Giuliano
Carmignola
Joseph Haydn:
Violinkonzerte
(DG 2012).
[/CD]