Am Tag drei nach der offiziellen Eröffnung der Ausstellung «Gallus und sein Kloster» ist Ruhe eingekehrt. Die Touristenströme sind noch nicht da. Martin Gehrer, Präsident des Katholischen Konfessionsteils und Hausherr, führt eine kleine Gruppe herum.
Ein Lehrer trifft mit seiner Klasse ein. Er zeigt ihnen die grosse, 20 Kilo schwere Alkuin-Bibel. «Ein solches Buch liest man nicht im Bett», bemerkt er. «Jetzt fehlt uns noch ein richtig wertvolles Werk», sagt er und steuert das über tausendjährige «Evangelium longum» mit seinem prachtvollen Einband aus Elfenbein, Gold und Edelsteinen an.
Neubelebung des Stiftsbezirks
In einem kleinen Kino läuft ein Film, der in kraftvollen Bildern das Leben des Klostergründers Gallus beschreibt. Um die Ecke ist der irische Missionar aus dem 7. Jahrhundert leibhaftig zu besichtigen – als nachgebildete Figur mit der Haartracht der Zeit. Von 150 000 von Hand eingezogenen Haaren hat Ausstellungsmacher Peter Jezler bei der Eröffnung gesprochen.
Die neue Ausstellung im Gewölbekeller unter der St. Galler Stiftsbibliothek stellt die erste Etappe eines grossen Projekts zur Belebung des Stiftsbezirks dar, der seit 1983 zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. Zu den zwei bisherigen Stationen – der Kathedrale und der Stiftsbibliothek – sollen zwei aufwendig gestaltete Dauerausstellungen kommen. Die zweite Ausstellung wird im April gegenüber der Kathedrale im sogenannten Zeughausflügel des Regierungsgebäudes eröffnet. Sie nimmt anhand der Bestände des Stiftsarchivs das Alltagsleben der Menschen des frühen Mittelalters mit multimedialen Mitteln in den Blick. Beide Ausstellungen sind eng miteinander verknüpft, auch wenn sie unterschiedliche Trägerschaften haben. Denn im Zeughausflügel trägt der Kanton die Verantwortung.
Unzufriedenheit führte zu Neugestaltung
Mitgewirkt hat der Fribourger Patrick Cotting, der sich auf Kulturmarketing spezialisiert hat. Seine Arbeit in der Ostschweiz hat ihm im Tessin einen neuen Auftrag verschafft: Bellinzona verfügt mit seinen drei Burgen über ein imposantes Bollwerk aus dem Mittelalter. Ein Unesco-Weltkulturerbe, das pro Jahr aber nur gerade von 60 000 Menschen besucht wird.
Bisher erzählt keine Ausstellung die Geschichte des Verteidigungskomplexes, den Cotting kühn mit der Chinesischen Mauer vergleicht. Nun wollen die Tessiner nachholen, was St. Gallen gerade leistet.
Auslöser war in der Ostschweiz die Unzufriedenheit auf zwei Seiten: Stiftsbibliothekar Cornel Dora wollte 1400 Jahre Kulturgeschichte in einer modernen Dauerausstellung erzählen und dabei einiges aus seinem enormen Handschriftenschatz präsentieren. Und Stiftsarchivar Peter Erhart war es leid, seine wertvollen Urkunden nur alle paar Jahre und unter unzumutbaren Bedingungen zeigen zu können.
«Der grösste Feind ist das Licht»
Dabei gilt es, stark auf die alten Handschriften und Urkunden Rücksicht zu nehmen. «Wir hüten hier das älteste intakte Klosterarchiv der Welt», sagt Peter Erhart im Untergeschoss des Zeughausflügels und führt in den Kulturgüterschutzraum. «Der grösste Feind ist das Licht, es lässt auf den Pergamenten die Tinte verblassen.» Sein Stellvertreter Jakob Kuratli Hüeblin betont beim Rundgang durch die Baustelle der neuen Ausstellung: «Hier wird es relativ dunkel sein.» Wegen allfälliger Lichtschäden wird man das Paradestück daher nur kurz sehen können: den Klosterplan aus der Zeit um 830.
Neue Dauerausstellungen
Gallus und sein Kloster – 1400 Jahre Kulturgeschichte Gewölbekeller der Stiftsbibliothek St. Gallen
Das Wunder der Überlieferung – der St. Galler Klosterplan und Europa im frühen Mittelalter
Ab Sa, 13.4. Zeughausflügel des Regierungsgebäudes St. Gallen
Informationen: www.stiftsbezirk.ch
4 Fragen an den Kulturmarketing-Spezialisten Patrick Cotting
«Die Politik mischt sich zu stark ein»
kulturtipp: Sie haben Weltkulturerbe-Stätten im In- und Ausland auf ihre Vermittlungsleistungen untersucht. Auf welche Defizite sind Sie gestossen?
Patrick Cotting: WeltkulturerbeStätten sind grundsätzlich eine Visitenkarte der jeweiligen Region. Positiv bedeutet das: Die Politik identifiziert sich mit ihnen. Und negativ: Sie mischt sich oft zu stark ein. Das führt zu vielen Defiziten. Angebote sind unzureichend, Entscheidungsstrukturen zu kompliziert, die Vision nicht erkennbar, und die Besucher gehen oft vergessen.
Der Stiftsbezirk St. Gallen hat heute 140 000 Besucher pro Jahr, im niederösterreichischen Kloster Melk hingegen sind es 500 000. Wie erklärt sich diese Differenz?
Man könnte einerseits anführen: Melk ist ein lebender Konvent, St.Gallen ein ehemaliges Kloster. Und Melk wird gezielt für die Wiener Touristenströme als Ausflugsziel vermarktet. Der Vergleich hinkt aber. Denn auch wer in Melk nur den Garten besichtigen will, muss Eintritt zahlen und wird gezählt. In St. Gallen sind der Besuch der Kathedrale und des Klosterhofs gratis. Gezählt werden nur die Besucher des Barocksaals der Stiftsbibliothek.
Im April wird die zweite neue Dauerausstellung im Stifts-bezirk ihre Tore öffnen. Wo wird St. Gallen dann im Vergleich zu anderen Welt-kulturerbe-Stätten stehen?
St. Gallen rangiert dann ganz vorne: mit den Wechselausstellungen in der Stiftsbibliothek, mit der gerade eröffneten Ausstellung zur Geschichte des Klosters im Gewölbekeller und mit dem neuen Ausstellungssaal, in dessen Zentrum der berühmte Klosterplan steht. Unsere neue Vision heisst: «Werte der Menschheit entdecken: zeitlos, einzigartig, inspirierend.» Sie wird dazu führen, dass sich der Besuch des Stiftsbezirks wirklich lohnt und die Besucherinnen und Besucher hier gerne einen Tag verbringen.
Welches Segment von Besuchern peilen Sie vor allem an?
Neben den Touristen aus der Ferne sind es zum einen Besucher aus jenen Gebieten, in deren Geschichte das Kloster St. Gallen eine Rolle gespielt hat. Das führt bis hinauf nach Norddeutsch-land, ins Elsass und nach Österreich. Zum andern wollen wir den Stiftsbezirk in der ganzen Schweiz bekannter machen und Familien mit Kindern sowie Schulen mit eigenen Angeboten neu ansprechen.