Es gibt viele absurde Weihnachtsgeschichten, kaum eine ist absurder als diejenige von «I Want A Hippopotamus For Christmas» («Ich will ein Nilpferd auf Weihnachten»). Das Lied, gesungen von der zehnjährigen Gayla Peevey aus Oklahoma, wurde im Jahr 1953 sogar ein Hit. Ein Geschäftsmann witterte das Publicity-Potenzial und schaffte es tatsächlich, auf die Festtage hin ein junges Nilpferd aufzutreiben, das er der Sängerin schenken konnte. Gayla reichte das Tier dankend an den Zoo von Oklahoma weiter.
Nicht überall gilt Weihnachten als eine Zeit der Besinnung. Die paradoxe Kombination von Gebet und Party hat in der angelsächsischen Welt eine Tradition, die ins Mittelalter zurückreicht.Im 17. Jahrhundert wurde Grossbritannien von der Revolution der Puritaner gebeutelt, die sämtliche Spuren der katholischen Kirche sowie «heidnischer» Volksbräuche zu tilgen trachtete. Dazu gehörte mit dem Weihnachtsfest auch der Weihnachtsmann – bis dahin die Personifizierung festtäglicher Prasserei, aber auch Symbol für die guten Taten, welche man bei dieser Gelegenheit von den Nobelherren erwartete.
Die Rückkehr des Sankt Niklaus
Die Royalisten und damit das Weihnachtsfest kehrten 1660 an die Macht zurück, der Weihnachtsmann vorerst nicht. Bis er in der viktorianischen Epoche wiederentdeckt und mit der US-Version des Santa Claus kombiniert zum geschenkbringenden Wohltäter umfunktioniert wurde. Kirche, Hollywood-TV und Pub prägen heute die Festtage auf der Insel. Am Heiligen Abend wird – zumindest in Vor-Corona-Zeiten – gefestet. Den Weihnachtsmorgen beginnt man mit einem mächtigen Kater sowie dem Auspacken der Geschenke, es folgen der grosse Schmaus zum Zmittag, der Familienspaziergang und der nächste Ausflug zum Pub.
Der Boxing Day am 26. Dezember schliesslich wird mit dem Besuch eines Fussballspieles gefeiert, dessen Ausgang natürlich im Pub begossen wird. Dem Alkohol dürfte es zu verdanken sein, dass es sich die Briten gönnen, ein paar Tage lang die steife Oberlippe zu vergessen. Und mit der steifen Oberlippe vergessen sie auch jede Rücksicht auf den guten musikalischen Geschmack.
Die gesetzlose Weihnachtszeit macht es möglich, Hits zu landen mit Liedern, die während des restlichen Jahres niemals am Radio gespielt würden. Das Paradebeispiel ist «Killing In The Name» von der furiosen US-Rocktruppe Rage Against the Machine, das an Weihnachten 2009 Platz eins in den britischen Charts belegte. Der Erfolg war einer Protestaktion zu verdanken. Ein paar Musikfans wollten sich dagegen wehren, dass zynische Fliessbandprodukte von Casting-Show-Starlets die Hitparade verstopften. Ihre Online-Kampagne führte dazu, dass der Song im entscheidenden Moment tatsächlich öfter als alle anderen über den virtuellen Ladentisch gereicht wurde.
Robbie Williams: «Zu nerven war mein Ziel»
Am anderen Ende des Spektrums liegen Ladbaby, ein Ehepaar, das sich mit humorigen Familienvideos auf Facebook ein Millionenpublikum erarbeitet hat. Mit den Blödelnummern «We Built This City» und «I Love Sausage Rolls» (frei nach Joan Jetts «I Love Rock ’n’ Roll») belegten sie 2018 und 2019 den ersten Platz in der Weihnachtshitparade. Man kann ihnen das musikalische Verbrechen insofern verzeihen, als der Profit an eine wohltätige Organisation geht, die Bedürftige mit Lebensmitteln versorgt.
Überhaupt wohltätige Zwecke: Sie werden gern als «Excuse» bemüht, wenn es darum geht, Geschmacksverstauchungen schönzureden – man erinnere sich an «Do They Know It’s Christmas», die von Bob Geldof und Midge Ure im November 1985 eingespielte Benefizsingle für die Hungerleidenden in Äthiopien. Das Wort «Christmas» allein schon scheint weite Teile der musikliebenden Bevölkerung in den Irrsinn zu treiben. Je käsiger das Stück, desto grösser der Hit. «Last Christmas» von Wham!, das fürchterlichste Lied aller Zeiten. Im Schreibmoment steht das Video bei 549 492 613 Youtube-Klicks.
Es gibt Künstler, die sich ein Vergnügen daraus machen, die Freiheiten zu geniessen, die sich ihnen in der weihnächtlichen Parallelwelt auftun. So gab Robbie Williams letztes Jahr ein Weihnachtsalbum heraus, das er heuer um ein, zwei Corona-Weih-nachtssongs erweitert nochmals erscheinen lässt. «Ich bin seit 30 Jahren im Geschäft», erklärte er diesem Schreiber: «Da muss man sich etwas einfallen lassen, um den Trott etwas aufregender zu gestalten. Diesmal war es das Ziel, ein Lied zu schreiben, das den Menschen immer und ewig auf die Nerven gehen wird.»
Lässige Schnoddrigkeit mit Selbstironie
Aber nicht alle Weihnachtsschlager sind grauenvoll. Manchmal schaffen sie sogar den raren Spagat zwischen Grösse und Hitparade. So geschehen mit «Merry Xmas Everybody» von Slade und erst recht «A Fairytale Of New York» von der irischen Chaotenkombo The Pogues und Kirsty MacColl. Auch Robbie Williams singt «Merry Xmas Everybody». Der von Slade-Sänger Noddy Holder in einer inspirierten Schreibnacht hingeworfene Schlager vereint lässige Schnoddrigkeit mit gutmütiger Selbstironie zur genüsslichen Huldigung an den weihnächtlichen Partygeist.
Dass die Glam-Rock-Band auch an einem gewöhnlichen Arbeitstag gekleidet war wie ein Christbaum, liess die Botschaft erst recht authentisch erscheinen. «In dem Lied stecken all unsere euphorischen Erinnerungen an lange Tage im Pub», sagt Robbie Williams, «an Dinge, die man tat und nicht hätte tun sollen. Der Song ist Teil meiner DNS. Er versetzt dich zurück in einen Moment, an den du dich nicht mehr so genau erinnern kannst, aber du weisst, dass es dir gut ging.»
«A Fairytale Of New York» dagegen ist eine berührende Vignette aus dem Leben eines besoffenen Paares am Rande der Gesellschaft. Das Lied gehört in Grossbritannien zu den meistgehörten Weihnachtsliedern überhaupt – und noch jetzt, 33 Jahre nach seinem Erscheinen, hat es nichts von seinem anarchistischen Charme verloren. Dabei hat es auch dieses Jahr wieder eine Kontroverse ausgelöst. Es soll Menschen geben, die sich an der Verwendung eines Schimpfwortes stören. Die BBC und auch SRF spielen darum jetzt eine «korrigierte» Fassung, wo «faggot» durch «haggard» ersetzt wurde. Dabei zeigen die fruchtigen Beleidigungen, mit denen sich das Paar gegenseitig eindeckt, nicht Hass auf, sondern im Gegenteil tiefe Zuneigung und Liebe. Eine klassische Weihnachtsbotschaft also.