Das sind deutliche Worte. «Was der Sinn von Nachrichten im Kulturprogramm ist, die kürzer ausfallen als jeder Text in einer Gratiszeitung, müsste diskutiert werden.» Das schreibt der pensionierte Nachrichtenredaktor Kurt Witschi in seinem neuen Buch «Die Zeit: 12.30 Uhr – 90 Jahre Nachrichten im Schweizer Radio». Als Begründung dieser Knappheit hält Witischi zum neuen Programm von Radio SRF 2 Kultur fest: «Angesichts des Protests gegen Nachrichten jede halbe Stunde strich man die Kurznachrichten auf nur noch eine Minute zusammen.»
Die Entwicklung
Der Autor vermittelt der Leserschaft in seinem Buch eine anschauliche Zusammenfassung von den Anfängen des Radios bis heute anhand der Bulletins: Seit 1931 verbreitet das hiesige Radio via den Landessender Beromünster um 12.30 Uhr aktuelle Meldungen; diese Zeitangabe ist heute so fix im Bewusstsein der älteren Generation wie etwa die «Tagesschau» um 20 Uhr bei den Deutschen.
Der erfahrene Radiomann Witschi weiss im Blick auf alle SRF-Radioprogramme, dass «Kritik von Hörerseite meist von sogenannten Durchhörern kommt». Das sind Leute, «die ab dem frühen Morgen das Radio laufen lassen und um 8 Uhr nicht zum dritten oder fünften Mal dieselben Themen hören möchten». Das führe zu einem Dilemma für die Radiomacher: «Sie wissen durch Befragungen, dass die Mehrzahl der Hörer am Morgen um die 20 Minuten lang Radio hört, deshalb werden zu jeder halben Stunde Informationen gesendet.»
Kurt Witschi hat eine umfassende Geschichte der Radionachrichten geschrieben: Bis 1971 bezog das Schweizer Radio seine Nachrichten von der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA), die damals eine quasi-offiziöse Verlautbarungsfunktion ausübte. Genüsslich zitiert der Radiomann SDA-Meldungen aus den 1960er-Jahren, die in einem befremdlichen Amtsdeutsch verfasst waren: «In der heutigen Volksabstimmung wurde das Bundesgesetz betreffend die Änderung des Beschlusses der Bundesversammlung über Milch, Milchprodukte und Speisefette (Milchbeschluss) mit 348 001 Ja gegen 212 495 Nein angenommen.»
Viel Erhellendes
Die grösste Herausforderung für die Unabhängigkeit des Radios und der Depeschenagentur war der Zweite Weltkrieg. Nazideutschland übte Druck aus, um seine propagandistischen Ziele durchzusetzen. Geschick war gefragt, um gefährliche Kontroversen zu vermeiden: «Obwohl die Meldungen des Deutschen Nachrichtenbüros reine Nazipropaganda waren, konnte die SDA auf diese Quelle nicht verzichten, zu einfach hätte Berlin ihr sonst vorwerfen können, sie verbreite nur antideutsche Meldungen der gegnerischen Kriegspartei», schreibt Witschi. Er erinnert daran, dass inländische Organisationen wie die «Aktion zur Wahrung der Neutralität» eine Überwachung der SDA verlangten, «weil deren Einstellung Anlass zu schweren Bedenken gebe».
Kurt Witschi verhehlt in seinem Buch die dunklen Seiten der Schweizer Nachrichtengeschichte nicht. So ignorierte der nationale Sender die Judenverfolgung in Europa. Mehr noch: Als die Alliierten 1942 in einem Aufruf aus London auf das Schicksal der Juden hinwiesen, verbreitete die SDA zwar die Meldung, und die meisten Zeitungen druckten die Nachricht. Doch in den Radionachrichten war nichts davon zu hören – wahrscheinlich aus Rücksicht gegenüber den Deutschen. In andern Fällen informierte die SDA die Bevölkerung via Radio allerdings sehr zuverlässig, wie ein ausgewogenes Bulletin über den Beginn des Spanischen Bürgerkriegs im Sommer 1936 zeigt.
Der ehemalige Nachrichtenmann Witschi hat ein angenehm lesbares Buch geschrieben mit zahlreichen, erhellenden Episoden aus dem Radioalltag.
Buch
Kurt Witschi
«Die Zeit: 12.30 Uhr»
248 Seiten
(NZZ Libro 2015).