Atemlos kommt Ruth Schweikert aus dem strömenden Regen im Solothurner Restaurant an. Die 50-jährige Autorin absolviert ein dichtes Programm mit Lesungen und Interviews. Ihr letzter Roman «Ohio» liegt zehn Jahre zurück, entsprechend gross ist das Interesse. Die Schriftstellerin wirkt angespannt: Vor wenigen Tagen hatte sie einen Unfall mit anschliessender Operation und kann nun ihre rechte Hand nicht bewegen. Im Gespräch ist sie aber ganz bei sich, oft mit geschlossenen Augen konzentriert auf ihr Inneres ausgerichtet.
kulturtipp: Frau Schweikert, wie werden wir älter?
Ruth Schweikert: Beim Schreiben hat mich vor allem diese Frage beschäftigt: Was passiert mit unseren Erinnerungen, wie schätzen wir Ereignisse im Nachhinein ein? Etwas, das im Moment des Erlebens unwichtig ist, stellt sich vielleicht als lange nachhallend heraus – und umgekehrt. Natürlich geht es in meinem Roman auch um physische Phänomene des Alterns, um das Jung-bleiben-Wollen. Der Hauptfokus aber liegt auf den Erinnerungen und ihrer Präsenz in der Gegenwart.
Sie stellen das Zitat von Max Frisch voran: «Die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur.» Also eine positive Sicht auf das Älterwerden?
Ja. Wichtig ist auch, was an das Zitat anschliesst: Dass man Zeugnis abgibt vom Erlebten, denn das Denken im Moment kann nie für immer gelten. Darin ist auch die Frage aus dem Fragebogen von Frisch enthalten: «Wann haben Sie aufgehört zu meinen, dass Sie klüger werden, oder glauben Sie es immer noch?» Das Buch ist eine Auslegung von diesem Zitat, das aber erst gegen Ende des Schreibens dazukam.
Das Schweigen und was Familiengeheimnisse alles anrichten können, sind zentrale Themen im Buch. Ein Plädoyer für die offene Kommunikation?
Teilweise. Der Roman zeigt, wie sich Tabus im Laufe der Jahre verändert haben. Mit Affären, Kuckuckskindern, Scheidungen wird heutzutage offener umgegangen als in den 60ern und 70ern. Gleichzeitig herrscht in anderen Bereichen eine totale Transparenz, die fragwürdig ist: Wir geben auf Facebook und Co. alle Daten preis, die für ökonomische Interessen benützt werden. Aber man kann den Roman durchaus als Plädoyer fürs Benennen sehen. Was man benennt, verliert seinen Schrecken. Auch das Schreiben ist letztlich nichts anderes. Wenn man eine Sprache für etwas findet, kann man sich in ein Verhältnis dazu setzen, einen Umgang damit finden.
«Unsere Geschichten nähren sich aus dem, was wir nicht verstehen», heisst es in Ihrem Buch. Ihr Roman hat sehr viele Leerstellen. Lassen Sie bewusst einige Aspekte im Dunkeln?
Es ist immer ein Spiel mit den Lesern. Was erkläre ich, was nicht? Kunst neigt dazu, das Leben zu überstrahlen. Es gibt diese Versuchung, eine Erzählung zu komplettieren. Aber das scheint mir nicht adäquat. Ich will etwas von unserer heutigen Wahrnehmung der Welt in einem Text abbilden: Spuren, die kommen und wieder verschwinden. Figuren, die eine Bedeutung haben, und die wir wieder aus den Augen verlieren. Ich will nicht die Illusion erschaffen, dass alles aufgeht. Im Leben gehts auch nicht auf.
Die Solothurner Literaturtage standen unter dem Motto «Konflikt.Stoff». In Ihren Büchern sind die Konflikte vor allem innerlicher Art, Weltkonflikte streifen Sie nur am Rande …
Im Roman bricht die Zeitgeschichte immer wieder in die individuelle Geschichte ein. Etwa, als die Figur Friederike plötzlich gewalttätig wird gegenüber ihrer Nachbarin. Das ist in einen ganz bestimmten Kontext eingebettet: Das Attentat im Olympiastadium in München 1972. Es ist ihr Reflex auf die deutsche Geschichte, auf das Nazitum. Sie begreift plötzlich, dass sie ein Teil ist von der Zeitgeschichte.
Beziehungen, Familienabgründe, Vaterlosigkeit sind Ihre vorherrschenden Themen. Was muss ein Stoff mitbringen, damit er Sie packt?
Ein Rätsel. Ich verhandle Lebensfragen in meiner Literatur. Sehr vieles kann zum Stoff werden. Ich schöpfe natürlich nicht nur aus mir selbst, sondern recherchiere auch viel. Das Buch enthält nur einen Bruchteil dieser Recherche.
Seit Ihrem letzten Roman sind fast zehn Jahre vergangen. Ist die ausgiebige Recherche mit ein Grund für die lange Pause?
Es gibt mehrere Gründe. Das Präsidium bei Suisse Culture und die Begleitung der Studenten am Literaturinstitut in Biel haben viel Platz eingenommen. Mir ist es wichtig, meinen Teil zum Einkommen unserer 7-köpfigen Familie beizutragen. Die schriftstellerische Arbeit musste ich manchmal dafür opfern. In dieser Zeit habe ich aber auch am Schulhausroman-Projekt gearbeitet, zwei Theaterstücke geschrieben und an Film-Drehbüchern mitgearbeitet. Dann gab es diesen Moment, als ich mir sagte, dass ich die Prioritäten anders setzen muss, sonst leide ich.
Ist für Sie das Schreiben eine Notwendigkeit?
Wenn ich mir den Raum zum Schreiben nicht nehmen kann, gehts mir nicht gut. Es ist eine Arbeit, die mich mitnimmt, mir aber auch sehr viel gibt. Der Text, die Sprache, werden zum Gegenüber, die einen im besten Fall anschauen. Das hat eine ästhetische Komponente – die sprachliche Schönheit kann zu leuchten beginnen.
Die Sprachästhetin
Ruth Schweikert wurde 1964 im deutschen Lörrach geboren und ist in Aarau aufgewachsen. Sie hat eine Theaterausbildung gemacht und einige Semester Biologie und Germanistik studiert. 1994 ist ihr vielbeachteter Erzählband «Erdnüsse.Totschlagen» erschienen. Die preisgekrönte Schriftstellerin und Theaterautorin ist als Dozentin am Literaturinstitut in Biel tätig. Sie hat fünf Söhne und lebt mit ihrem Mann, dem Dokumentarfilmer Eric Bergkraut, in Zürich.
Grosses Schweigen
Ruth Schweikert erzählt im Roman «Wie wir älter werden» die Geschichte zweier Familien, die untrennbar miteinander verknüpft sind. Jacques und Friederike haben drei Kinder, Helena und Emil ebenfalls – zwei davon hat allerdings Jacques gezeugt. Die Affäre zwischen Jacques und Helena ist ein lange gehütetes Geheimnis der beiden Elternpaare.
Schweikert entwirft ein Familienpanorama über mehrere Generationen hinweg – vom Zweiten Weltkrieg bis heute. Im steten Wechsel der Zeitebenen und Erzählperspektiven lassen sich wie bei einem Puzzle nach und nach die Familiengeschichten rekonstruieren: Der frühe Tod von Helenas Tochter, die lebenslange Liebe zwischen Jacques und Helena, Jacques’ Gefängnisaufenthalt, das Leiden der Kinder unter dem Schweigen der Eltern.
Ruth Schweikert
«Wie wir älter werden»
272 Seiten
(Fischer 2015).
Radio
So, 14.6., 11.03 SRF 2 Kultur
«52 beste Bücher»
Ruth Schweikert im Gespräch