«Was Buchstaben alles anrichten können» Von Gion Mathias Cavelty
Inhalt
Kulturtipp 23/2012
Gion Mathias Cavelty
Ich bin Nichtleser. Seit dem 1. August 2000, um genau zu sein. Und ich bin sehr glücklich mit dieser Entscheidung. Wenn ich daran denke, wie viel Buchstabenschrott mir in der ganzen Zeit erspart geblieben ist, durchströmt mich tiefe Dankbarkeit. All die Elaborate auf den Bestsellerlisten der letzten 12 Jahre: Komplett an mir vorbeigegangen. Darum sieht meine Haut auch noch so jugendlich-frisch aus.
Ab und zu habe ich zwar auch meine schwachen Momente. Das unb&au...
Ich bin Nichtleser. Seit dem 1. August 2000, um genau zu sein. Und ich bin sehr glücklich mit dieser Entscheidung. Wenn ich daran denke, wie viel Buchstabenschrott mir in der ganzen Zeit erspart geblieben ist, durchströmt mich tiefe Dankbarkeit. All die Elaborate auf den Bestsellerlisten der letzten 12 Jahre: Komplett an mir vorbeigegangen. Darum sieht meine Haut auch noch so jugendlich-frisch aus.
Ab und zu habe ich zwar auch meine schwachen Momente. Das unbändige Verlangen überkommt mich, etwas mit Seiten in die Hand zu nehmen und darin zu blättern. Ich muss dann einen Kniff anwenden, um meinen feierlich geleisteten Nichtleserschwur nicht zu verletzen. Ich sage mir: «Wenn es mehr Bildli als Text in dem Ding drin hat, in dem ich gerne blättern würde, dann darf ich» (darin blättern). Das Verhältnis ist dabei genau definiert: Auf fünf Quadratzentimeter Bildli darf nur ein Buchstabe kommen. Und mein Blick darf auch nicht EXTRA auf einen Buchstaben fallen, sondern nur UNABSICHTLICH. Sonst soll der heilige Nichtleserblitz mich vernichten!
Am letzten Donnerstag war es wieder ein-mal so weit: Ich musste dringend in etwas blättern. Am Kiosk fiel mir das Magazin «BIKERS NEWS» (Untertitel: «Checkpoint der Rocker») in die Hände.
Zu meiner Freude waren jede Menge halbnackte Biker-Bräute mit gewaltigen Silikonbrüsten darin abgebildet, die sich auf imposanten Motorrädern räkelten oder sich auf wilden Biker-Partys mit Bier übergiessen liessen. Schnell hatte ich also eine stattliche Anzahl Buchstaben zugute.
Rein zufällig sprangen mir dann einige Buchstabenkombinationen ins Auge.
Auf Seite 21 etwa waren «Die zehn Todsünden für einen 1%er» (als solche bezeichnen sich die wirklich bösen, bösen Outlaw-Biker) abgedruckt: «Grabbing for a brother’s bitch / Living without tattoos / Vegetarian lifestyle / Sobriety in general …»
Auf den Seiten 41 bis 53 fanden sich die «Clubnachrichten». Einfach erstaunlich, was es alles für Motorradclubs gibt! Etwa den «Satansadler MC Buxtehude», die «Motorradfreunde Alte Eisbären Pulheim» oder die «European Christian Motorcyclists Gummersbach». Die Namen der Ortschaften, in denen sich die Clubhäuser befinden, sind reine Poesie: Brunsbüttel – Lauenförde – Wunsiedel/Holenbrunn – Tauberbischofsheim – Grossrosseln … ach, für mein Leben gern führe ich mal nach Grossrosseln!
Unbestreitbar cool sind auch die Namen der Clubpräsidenten: Schnauzer – Stripper – Rosti …
Auf Seite 43 dann unvermittelt ein tragisches Element: Eine Todesanzeige für ein ehemaliges Mitglied des MC Langenenslingen. «In Memory of Stöpsel, † 22.07.2012». Eine ganze Rockerexistenz auf den Punkt gebracht, ohne Schnörkel und Firlefanz.
Auf Seite 58: Eine Reportage über das 15-Jahre-Jubiläum des Thorwalha Motorcycle Club Germania und die aus diesem Anlass durchgeführten «Bikerspiele»: «Die Biker gingen in vier Disziplinen an den Start: Pimmelfechten, Schlauchsaugen, Wettrülpsen mit Dezibelmessgerät und Bobbycar-Trecker fahren.»
Auf Seite 61: Ein Inserat für «Die besten Motorrad-Krimis» (darunter «Kurbelwellen weinen nicht» von einem gewissen Hans Dölzer) sowie «Die härtesten Romane aller Zeiten» (namentlich «Weiber, Weichlinge, echte Männer», «Leichentanz der Amazonen» und «Zug der ungeilen Toten»).
Seite 66: Ein Bericht über das Bike & Music-Weekend des Knight Riders MC Bad Kissingen und dessen «Burnout-Show». Ein Biker namens Ratz «zog seine Lady burnend mit einem Kinderschlitten über den Asphalt. Die Dame trug eine Gasmaske, um im Rauch des Hinterreifens nicht zu ersticken». An der «Dragster-Show» gab es einen Top Fuel Funny Car mit 8000 PS zu bestaunen – «auf der Viertelmeile schluckt das Geschoss stolze 80 Liter. Das Fahrzeug benötigt lediglich 4,8 Sekunden für die Beschleunigung auf über 500 km/h».
«Wow! Die ‹Biker News› haben es wirklich in sich», rief ich an dieser Stelle hingerissen aus. «Ich werde mir fortan keine Ausgabe entgehen lassen! Der heilige Nichtleserblitz kann mich mal am A**** lecken! Ab sofort bin ich ein 1%er-Nichtleser! Und ich werde mit den Stiefeln an den Füssen sterben!»
So viel zum Thema «Was Buchstaben alles anrichten können».
Ich wünsche Ihnen eine besinnliche Vorweihnachtszeit.
Gion Mathias Cavelty
Der 38-jährige Bündner Schriftsteller ist Autor des Buchs «Endlich Nichtleser – die beste Methode, mit dem Lesen für immer aufzuhören». Es erscheint demnächst als eBook-Neuausgabe im Salis-Verlag.