Zuerst war es reine Bequemlichkeit. Das ewige Rasieren ging mir auf die Nerven. Mit dem Alter erlischt die Geduld für Zeitverschwendung, andererseits erwächst aus der schwindenden Eitelkeit frische Zivilcourage. Eines Tages hörte ich einfach auf. Drei unrasierte Jahre sind seither verstrichen. Ich bedaure wenig in meinem Leben, aber ein paar Dinge schon. Zum Beispiel, dass ich damals nicht freundlicher zu Lisa gewesen bin oder dass ich dem Typ von Depeche Mode nicht ins Gesicht sagte, was für ein selbstverliebter Langweiler er sei. Vor allem aber bedaure ich, dass ich mir nicht früher einen Bart zulegte. Ich meine dabei keinen pedantisch gemähten Rasen, wie er heute trendigen TV-Moderatoren abverlangt wird. Nein! Mein Gesichtskraut soll wild wuchern. Es darf sich frei entfalten wie die Fantasie.
So brachte mich der Bart zur späten Einsicht, dass ich nie hätte Elvis sein können, selbst wenn ich es gewollt hätte: Dort, wo bei ihm die Koteletten surreale Männlichkeit suggerieren, ist es bei mir blank wie ein Baby-Popo. Dafür hängt unter dem Kinn ein dachsfarbener Besen, in dessen Ästen ich problemlos ein Äffchen samt Bananen ins Land schmuggeln könnte.
Der Bart polarisiert. Auch mich selber. Es kommt vor, dass ich mir zufällig im Spiegel eines Schaufensters begegne und denke: «Kenne ich den?» Gefolgt von: «Will ich den kennen?»
Was mir den Bart lieb macht, ist weniger die Ästhetik (obwohl: Dass er das Doppelkinn verdeckt – ein Vorteil!), als vielmehr die Tatsache, dass er aufregend schräge Situationen provoziert. Einmal stand ich an der Bar, da schob sich ein mir unbekannter Herr zu mir hin, bückte sich zu meinem Ohr hinunter und brummte mit Grabesstimme: «Wie das sein muss für eine Frau, sowas zu küssen – haben Sie sich dies schon mal überlegt?» Dann erhob er sich wieder zur vollen Länge, tippte mit dem Zeigefinger verschwörerisch an die Nase und ging an seinen Platz zurück.
Der Bart lässt Hemmungen schmelzen wie der Gin & Tonic den Eiswürfel. Nüchterne Menschen sind plötzlich sturzbesoffen. Nie würde jemand auf offener Strasse einem wildfremden Mann nachrufen: «Geile Hosen!» oder «Super Frisur!» Beim Bart gelten solche Regeln nicht. Erst gestern wieder hörten die Strassenarbeiter mit Graben auf, als ich vorbei spazierte, und einer sagte: «I like the beard!» Selbst im Gym, wo zwischen den Männern kaum ein Wort fällt, ist es nicht tabu, einem fremden Mann unbekannter sexueller Orientierung ein Kompliment für seinen Bart zu machen.
Bartlosen Existenzen kann es in meiner Wahlheimat London leicht passieren, dass sie ein Vermögen im Lokalpub ausgeben, ohne je in ein Gespräch verwickelt zu werden. Ich hingegen kann kaum eine neue Schenke betreten, ohne dass sich bald der folgende Dialog abspielt: «Sorry, ist es erlaubt, eine etwas persönliche Frage zu stellen?» Selbstverständlich. «Sagen Sie, warum haben Sie diesen Bart?»
Der Bart, auch wenn er ohne Jesus-Mähne daherkommt, ist ein nützliches Emblem von Autorität: Sofort schweigt die Gesprächsrunde, wenn der Bart zu wackeln anfängt und Laute von sich gibt. Hätte ich weniger Skrupel, würde ich eine Sekte gründen und Millionen verdienen. Weil ich dies nicht tue, habe ich noch immer keinen Chauffeur und gehe zu Fuss. Oft höre ich den Zuruf: «Hey, ZZ Top!» komplett mit den swingenden Händen aus dem Video der US-Band mit ihren Bärten.
Erstaunlich, das Wohlgefühl, das so eine spontane Äusserung, die nichts kostet, vermittelt. Ganz ähnlich wie ein freundliches «Grüezi». Dank dem Bart wird die Grossstadt ein bisschen wie ein Dorf.
So weit die höflichen Begegnungen. Spannender sind natürlich die unhöflichen. Damit meine ich nicht das unverfrorene Starren und die «Geh doch heim, Taliban!»-Sprüche, denen ich in Zürich – nicht aber London! – oft begegne. Nein, ich meine die ebenfalls wildfremden Frauen, die beim Anblick meines Bartes die Fassung verlieren. Zugegeben, meist geschieht dies im Pub, und meistens ist Alkohol im Spiel. Trotzdem. Aus allen Windrichtungen stürzen sie herbei, stammeln ein kurzes: «Sie haben doch nichts dagegen, oder?» Und schon zerren, zupfen oder streicheln sie am Bart, als wäre ich ein Kater, der ihnen um die Beine streicht. Unvergessen bleibt «Marnie» (hiess sie wirklich so?), die mir eine halbe Stunde im Bart kraulte, ihre Lebensstory erzählte, gestand, sie habe es mit den Nerven, sei dreifache Mutter, sei lang nicht mehr aus dem Haus gekommen – mein Bart habe ihr die Furcht vor dem Reden genommen. Oder die feurige Furie, die aus dem Nichts kommend an meinem Kieferzopf hing und meine Schreckenslähmung dazu missbrauchte, mir sogleich – igitt! - die Zunge in den Rachen zu rammen. Andererseits verweigert mir eine alte Freundin jetzt standhaft das Begrüssungsküsschen. Sie habe eine unüberwindbare Bartphobie, sagt sie.
Auch wenn es mir mit dem Gesichtsgewächs nicht immer wohl ist – besonders in der Hitze –, möchte ich es nicht missen. Gerade wegen der Herausforderungen, die es täglich serviert.
Da setzte sich doch einer im Zürcher Tram neben mich, guckt kurz.
«Grüezi!»
«Grüezi.»
«Oh, Tschuldigung, hab Sie verwechselt. Ich dachte, Sie seien der Pfleger im Burghölzli.»
«Nein, der bin ich leider nicht.»
«Nein, der sind Sie nicht.»
Der Sitznachbar schweigt ein paar Sekunden und tappt mir dann an den Ellbogen.
«Warum fahren Sie Tram? Ist der Töff kaputt?»
Hanspeter «Düsi» Künzler
Hanspeter «Düsi» Künzler ist Autor und Journalist. Er schreibt vornehmlich über Musik und Sport. Künzler lebt mit seiner Familie in London.