kulturtipp: Jonathan Nott, lieben Sie Wagner?
Jonathan Nott: Oh - ja! Ich wollte bekanntlich Sänger werden, aber ich konnte während des Studiums nicht den ganzen Tag singen. Ich fragte mich, was ich mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Ich kaufte mir die Partitur des «Ring des Nibelungen» und studierte dieses Werk überaus sorgfältig. Es beeindruckte mich zutiefst!
Verzeihen Sie, aber das hört sich nach einer intellektuellen Liebe an ...
Es begann aus einer intellektuellen Übung. Dann aber sprach mich diese Musik innerlich an, obwohl ich doch als Sänger italienisch orientiert war, Verdi liebte ... Die Liebe zu Wagner hat seither nicht mehr aufgehört.
Geht diese Wagner-Liebe in einen Wagner-Fanatismus über? «Ein bisschen Wagner mögen» geht nicht.
Da haben Sie recht. Ich sehe das bei meinem Vater, der zurzeit eine ähnliche Erfahrung macht wie ich einst. Er sagte mir vor kurzem: «Ich komme da nie wieder raus ...» Ich weiss, was er meint. Das ist vielleicht ein Problem der deutschen Romantik, in der ich mich seit etwa zehn Jahren bewege: Eine gefährliche Welt der Versprechungen und der Sehnsüchte, die selten zu erfüllen sind. Und dann kommt noch diese bahnbrechende Musik Wagners hinzu. Da besteht die Gefahr, dass man sich verliert, weil Wagner dauernd neue Welten öffnet.
Wagner verschlingt Sie?
Völlig. Der «Ring» ist unheimlich vieldeutig und spricht alltägliche Themen an. Die Summe der Charaktere zeigt sich mit all diesen Aspekten: Was heisst es, Mensch zu sein? Der «Ring» erzählt uns, wie einfach man sein Leben verspielen kann. Es geht um Adoption, um Liebe, verbotene Liebe, um Gesetzesbruch. Keiner denkt da: «Ach Gott, da höre ich 16 Stunden lang Dinge, die mich nichts angehen.» Dieses Werk hat eine unheimliche Macht, den Menschen zu bewegen. Wagner schrieb ein soziopolitisches Werk, in dem seine damalige Gesellschaft mitsamt ihren Fehlern abgebildet ist. Das ist ein politischer Akt. Wagner offeriert aber auch eine Lösung. Er fordert uns auf, jede Form von Macht zu suchen, sie aber in Liebe umzuwandeln. Damit will er uns alle ansprechen.
Dieser «Ring» verschlingt Sie, aber als Dirigent dürfen Sie sich doch nicht darin verlieren?
Wieso nicht?
Sie müssen der Einzige im Saal sein, der einen klaren Kopf behält.
Ich verstand die Frage schon, aber ich komme an einen Punkt im Leben, wo ich Dinge nicht mehr unbedingt für unheimlich lange Zeit machen muss. Wer nicht in Wagner eintaucht, sich nicht in seiner Musik verliert, findet ihre Aussage nicht. Aber klar, einer muss die Fahne tragen. Damit lade ich die Leute ein, sich zu verlieren.
Den Verdianer gibt es nicht, auch wenn Millionen von Menschen Verdi lieben. Ist es nicht typisch, dass gerade aus Wagners Werk der Wagnerianer wird? Bayreuth, ihr Heiligtum, ist kein Zufall.
Wenn wir so weiterdenken, sind wir bald bei Hitler, bei den Nazis, die diese Musik benutzt, ja missbraucht haben. Und alsbald sagt einer: «In dieser Musik ist das Böse!» Aber gerade das glaube ich nicht. Die Konzentration auf ein Bayreuth, ein Pantheon für diese Werke, ist in sich selbst nichts Schlechtes, nichts Böses. Die Idee des Gesamtkunstwerkes, die Wagner selbst hatte, führt zu einem Bayreuth.
Nähern wir uns diesem Menschen, dann sehen wir ja auch eine fürchterliche Person. Wird es dann nicht unmöglich, sich in «Tristan» einzufühlen?
Ich will sein Benehmen nicht verteidigen, frage aber dennoch: Ist es notwendig? Es gibt fürchterliche Äusserungen von Wagner. Da war zum Beispiel ein jüdischer Bankier, dem er Geld geliehen hatte. Dieser schreibt in etwa an seinen Sohn: «Schrecklich, was Wagner über mich gesagt hat, dabei habe ich ihm so viel Geld gegeben, das ich nie zurückerhalten werde. Aber kein anderer meiner Klienten hat ‹Tristan und Isolde› geschrieben!» Ich glaube als Musiker an die Botschaft seiner Musik.
Die Musik reinigt Wagner?
Ja, sie lebt befreiend weiter.
Im Luzerner KKL dirigieren Sie den «Ring» konzertant. Dürfen Sie weniger szenisch dirigieren, da Sie mit dem Orchester nicht nach den Ideen eines Regisseurs arbeiten müssen, sondern Ihre eigenen verwirklichen können?
Diese Auseinandersetzung gibt es nicht, ich bin Dirigent und Regisseur. Nun wird alles, was erzählt wird, musikalisch geschehen. Aber nicht nur der Regisseur hat jeweils Bedürfnisse, sondern auch das Publikum! Ich muss auf Energien reagieren, die ich spüre. Wir sind im gleichen Rund, da gibt es nicht mehr die Trennung zwischen Saal und Bühne.
Ein sozialpolitisches Statement ...
Genau! Je näher man bei
Wagner am Publikum ist, umso besser.