kulturtipp: Wann stellen Sie Ihre Kunst infrage?
Christian Thielemann: Andauernd! Als ich hier in Bayreuth fünf Jahre lang den «Ring» dirigierte, war er im fünften Jahr am besten.
Ist es für Sie beängstigend, dass Ihr Publikum in Bayreuth, Salzburg oder Wien Sie nicht mehr infrage stellt?
Da wäre ich nicht so sicher, man kann sich des Publikumzuspruchs nie sicher sein. Und deswegen habe ich mich auch verändert: Je weiter es mit der Karriere ging, umso vorsichtiger wurde ich. Klingt komisch, nicht?
Sind Sie gelassener geworden?
Total! Aber glauben Sie nicht, dass da keine Zweifel sind. Ich zweifle in Gelassenheit – toller Titel für Sie!
Haben Sie noch Angst vor dem Publikum?
Es kann immer sein, dass ein grosser Dirigent ausgebuht wird – «u» trägt super, da braucht es nur drei, vier Buh-Rufer! Aber Angst soll man davor nicht haben. Die Leute erwarten von mir sehr viel, und kommt das nicht – oder nicht mehr –, dann sagen die hinterher: «Wir sind grosse Fans, aber heute war das nix.» Deshalb arbeite ich immer mehr an Verfeinerungen. Wenn ich mein Abziehbild abliefere, habe ich verloren. Deswegen ist Bayreuth so heilsam. Hier geht es um die Essenz: Man dirigiert im Schlabberhemd, die Musiker sitzen in kurzen Hosen vor mir, in Sandalen.
Werden Sie von den wenigen Orchestern geliebt, mit denen Sie zusammenarbeiten?
Ich arbeite nur mit wenigen Orchestern, weil die mich kennen und ich kenne sie. Die reagieren sofort, da gehen die Proben auch viel schneller. Wenn Sie oft zu einem Orchester kommen, die Chemie stimmt und Sie mit dem Orchester musikalisch harmonieren, werden Sie irgendwann auch geliebt.
Worin liegt die Liebe begründet: Im Vertrauen, Charisma oder im Wissen?
Im Vertrauen. Spürt ein Orchester, dass ich ihm vertraue, habe ich viel erreicht. Ich probiere vieles, lasse auch gewisses offen. Ich hoffe: Das wird schon. Ich merke sofort, ob mich ein Orchester mag, dann bin entspannt.
Welche Rolle spielt dabei Ihre Autorität?
Ein Orchester will geführt werden. Das in Abrede zu stellen, ist einer der grossen Irrtümer der 68er: Viele Diskussionen enden im Chaos. Wird sie aber geführt, schreit man auf: «So geht das nicht!» Ein Dirigent kann nicht Everybody’s Darling sein. Aber das Klischee vom rumschreienden, Angst einflössenden Chef ist Geschichte. Darauf haben Orchestermusiker keine Lust. Aber es gilt halt herauszufinden, was sie mögen.
Ein Beispiel?
Getraue ich mich, den Bläsern zu sagen, dass eine berühmte Stelle nie sauber ist? Tue ich es, dann sagen die anderen nachher in der Kantine sicher: «Endlich hat da einer mal etwas gesagt!»
«Das Regietheater ist tot», sagten Sie mal, aber Ihr Geist ist offen für moderne Regien, wie Sie in Ihrem Wagner-Buch schreiben. Sie waren sogar froh, 2011 Sebastian Baumgartens desolaten und ausgebuhten «Tannhäuser» dirigiert zu haben, der in einem Biolabor spielte. Das verstehe ich nicht.
Doch! Ich war froh, ganz genau zu sehen, warum das Regietheater am Ende ist. Und da möchte ich gerne dabei sein. Da setzte eine neue Entwicklung ein. Baumgarten, der ein sehr intelligenter Mann ist, wird sich seine Gedanken machen und verändern. Er und andere haben jetzt mal den Bad Boy gespielt. Aber sie sehen auch, wie sich das abgenutzt hat und die Leute nicht mehr kommen. Es gab Opernhäuser, die sich lange Jahre durch Regiearbeiten definierten. Fragten Sie nach dem Chefdirigenten, musste man lange überlegen. Aber schauen Sie die Zeitungskritiken an: Drei Viertel über die Regie, ein paar Sätze zu den Sängern, drei Zeilen zum Dirigenten. Versucht es jetzt mal umgekehrt! Erst die Musik, dann die Regie.
Die Oper wird von Regisseuren regiert.
Ja. Aber wird jeweils das Opernhaus des Jahres gewählt, waren es auch schon Häuser, die wegen der Regien leer waren. «Die Abonnenten sind halt doof», sagten die Macher. Wenn ich dann ab und zu etwas dagegen sagte, gab es ein Donnerwetter. Aber ich bin dafür, dass man solche Verkrustungen aufbricht. Genau jene Leute, die einst gegen Verkrustungen waren, hängen nun daran, kleben an ihrer Macht. Man greift zu verschiedenen Keulen: Zur Geschmacks-Keule, zur Politik-Keule, zur Intelligenz-Keule. Aber wir müssen so tolerant sein zu sagen, wenn uns etwas nicht gefällt. Dann mache ich halt nicht mit.
2016 inszeniert der umstrittene deutsche Künstler Jonathan Meese in Bayreuth den «Parsifal». Würden Sie das mit ihm machen? Als er vor drei Wochen bei den Mannheimer Schillertagen auftrat, waren am Schluss zwei Drittel der Zuschauer weg.
Da müsste ich mich zuerst mit ihm unterhalten. Ich habe einen tief sitzenden Groll, im Voraus Leute zu verurteilen. Leute, von denen man meint, sie produzieren den Super-Skandal, sind dann brav und das Publikum konsterniert.
Meese hat eine Strafanklage wegen eines öffentlichen Hitlergrusses am Hals. – «Hakenkreuz geht gar nicht», sagten Sie letztes Jahr, als beim russischen Sänger Evgeny Nikitin ein tätowiertes Hakenkreuz auf der Brust auftauchte. Und Hitlergruss?
Geht natürlich auch nicht, das ist absolut inakzeptabel. Man darf andere Menschen damit nicht provozieren und verletzen. Das gilt übrigens auch für die Musik. Wer sich durch das Schaffen von Wagner verletzt fühlt, der hört seine Werke nicht. Da muss ich Toleranz aufbringen und es gelten lassen.
Haben Sie mit Festivalleiterin Katharina Wagner über Meese diskutiert?
Nein, da halte ich mich raus. Zunächst einmal bin ich neugierig. Ich habe ihn auch hier ein paar Mal getroffen, fand ihn zwar einen leicht verrückten, angenehmen und keineswegs gefährlichen Menschen. Aber klar: Die politische Provokation ist doch schnell vorbei! Zu sagen, ich will die Leute provozieren, genügt mir nicht. Das Hakenkreuz langweilt mich, ich kann es nicht mehr sehen. Bei jeder politischen Demonstration auf der Bühne bin ich unangenehm berührt: Ich möchte keine Stalinfritzen auf der Bühne sehen, auch nicht jene in den langen Mänteln. Ist gewesen. Sie können die Leute damit nicht mehr schockieren – zumindest nicht im Theater.
Warten wir es ab.
So ein kleiner Skandal gehört offenbar zu Bayreuth. Früher gab es jedes Jahr eine Enthüllung im «Spiegel»: Irgend einer hatte ein Buch geschrieben, wir wussten wieder, wer welche Unterhosen getragen hatte. Aber heute? Es ist vorbei! Wir wissen wahrscheinlich schon zu viel.
Ausser über Wagners Seidenunterhosen …
Genau! Wo hat er sie bestellt? Wie viele? Gibts den Laden noch? Und wie hat die Haushälterin diese Seide gewaschen? Diese Unterhosen würden Sie gerne haben. Ja – und auch dieses grüne Samtbarett, das er sich in Paris schneidern liess.
Hat Sie dieser Wagner verschlungen?
Wir verschlingen uns gegenseitig. Er hat mir so viel Freude gemacht, dass ich ihm zutiefst dankbar bin. Es gibt ein Leben vor und nach Bayreuth.
Das tönt nach völliger Hingabe.
Meine Bewunderung ist kritisch. Aber angesichts dieses weltumspannenden Kosmos-Talentes blende ich manche Dinge aus, die ich nicht gut finde. Wie viel findet sich von Wagners viel diskutierten Schriften in der Musik? Nichts. Auch wenn noch so viele Musikwissenschaftler danach gesucht haben. Er hat all das überlebt – er überlebt uns alle und macht uns immer noch fertig.
Buch
Christian Thielemann
«Mein Leben mit Wagner»
319 Seiten
(Beck 2013).
DVD
Wagner: Parsifal, 2 DVDs (DG 2013).
CD-Box
Wagner: Ring
14 CDs
(DG 2013).
Christian Thielemann, musikalische Leitung in Bayreuth
Der 1959 in Berlin geborene Christian Thielemann war mit 19 Jahren Korrepetitor an der Deutschen Oper Berlin und Assistent von Herbert von Karajan in Berlin. Es folgten Stellen an den Opern Düsseldorf, Nürnberg und Berlin. 2004 wurde Thielemann Generalmusikdirektor der Münchner Philharmoniker. Seit 2012 ist er Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden und seit 2013 auch künstlerischer Leiter der Salzburger Osterfestspiele. Zum Wagner-Jahr erschienen tolle CD-Aufnahmen; am Do, 5.9., und Fr, 6.9., dirigiert Thielemann in Luzern (Restkarten siehe www.lucernefestival.ch).
Lucerne Festival
Do/Fr, 5.9./6.9., jeweils 19.30
KKL Luzern
Werke von Wagner, Henze, Eisler und Bruckner