Die Saison ist noch jung. Doch zwei Spuren hat der neue Schauspielchef Jonas Knecht schon gelegt. Nicht weit von seinem Büro entfernt steht am Marktplatz ein verglaster Container. Inmitten von Marktständen hat hier das Theater St. Gallen eine kleine Kunst-Insel eingerichtet. Auf Zeit, denn später soll der Container weiterziehen an den Gallusplatz, für ein adventliches Gastspiel vor den Türen der Kathedrale.
Tag für Tag stellt sich das Schauspiel auf eine dem Anlass und Ort angemessene Art vor. Die Dramaturgen, Regisseure und Schauspieler – auch Jonas Knecht selber – verteilen zum Beispiel Komplimente an die Passanten. Oder: Die Schauspiel-Leitung verlegt ihr Büro dorthin, nimmt Anregungen entgegen und lässt sich in Gespräche verwickeln. Oder: Es findet eine öffentliche Probe zum Stück «Am Boden» statt, das am 17. November Premiere haben wird. Mit Bildergeschichten wird der Container für Kinder geöffnet, und so weiter und so fort. «Eigentlich haben wir gar nicht die Kapazität für all das», sagt Jonas Knecht. «Aber wir tun es trotzdem. Und machen die Erfahrung, dass wir ziemlich im Gespräch sind.»
Denn, das hat er schon bei der Vorstellung seines ersten Saisonprogramms gesagt: Er möchte das Theater für Menschen öffnen, die dort nicht regelmässig ein und aus gehen. Dafür muss er experimentieren, muss die Menschen dort aufsuchen, wo sich ihr Alltag abspielt. «Wir finden gerade heraus, was funktioniert – und was nicht», sagt er. Am beliebtesten sind Darbietungen, bei denen man sich als Passant bequem einklinken und wieder gehen kann. Oder auch Formen, die wenig konzentrierte Ruhe erfordern: «Das Feine, Ruhige hat es schwer.»
Die zweite Spur, die Jonas Knecht gelegt hat, war «HotSpotHamlet», mit dem er im September die Saison eröffnet hat – mit drei unterschiedlichen Hamlet-Annäherungen: in der Lokremise beim Bahnhof als einen, stark vom Tanz geprägten und von ihm selber inszenierten, frech-absurden «Expertenkongress». Im Studio in einer von Anja Horst und Eveline Ratering erarbeiteten Fassung für Kinder und Jugendliche. Und im Grossen Haus in der von der neuen Hausregisseurin Barbara David-Brüesch verantworteten shakespeareschen Fassung – mit einer Frau (Jeanne Devos) in der Titelrolle des Dänenprinzen, der am Ende in den Sägemehlring steigt.
Spartenübergreifende Zusammenarbeit
Für Jonas Knecht war «HotSpotHamlet» ein erster Versuch, «die ganze Bandbreite von Theaterformen zu präsentieren». Das ist insgesamt gut angekommen, als ein starkes Zeichen. Mit seinem eigenen Hamlet hat er «eine erste, sehr schöne Erfahrung mit spartenübergreifender Zusammenarbeit gemacht». «Tanz- und Musiktheater sind offen für Ideen und Projekte, planen aber weiter hinaus. Deshalb müssen wir das längerfristig angehen», sagt Knecht.
Jetzt kommt «Vrenelis Gärtli» nach dem Roman von Tim Krohn: Das Vreneli geht nicht in die Schule, lernt lieber das zwielichtige Handwerk des Zauberns und streicht in Gestalt eines roten Füchsleins über die zerklüfteten Berge und Gletscher. Nachdem es die Tochter eines reichen Fabrikanten aus der Gefangenschaft eines Hexers gerettet hat, verfolgt dieser es. Bald darauf trifft Vreneli den Waisenknaben Melk, einen jungen Sennen, ein Quatemberkind wie sie – und spürt ein Sehnen, das sie bis dahin nicht gekannt hat.
Mit diesem Stoff geht es jetzt Anfang November weiter mit Jonas Knechts Annäherung an das eigene Publikum – und an den Ort, an dem er aufgewachsen ist und lange gelebt hat, bevor es ihn nach Berlin an die Hochschule Ernst Busch gezogen hat. Es ist eine Wiederaufnahme nach langer Zeit. 2010 hatte das Stück in der von Anita Augustin und Jonas Knecht erarbeiteten Bühnenfassung in Chur Premiere und war dann mit dem von ihm ins Leben gerufenen Theater Konstellationen durch die Lande gezogen. «Es ist eine Art von Mitbringsel von mir, ein moderner Heimatroman», sagt er. «Und es ist für mich eine Herzensproduktion, für die wir auf die Originalbesetzung zurückgreifen können. Wir bauen die Bühne neu, das Stück wird von der Musik leben. Und von grossen, starken Bildern, die dürfen nicht fehlen.» Die archaische Welt der Sagen und Mythen in «Vrenelis Gärtli» sei ihm sehr nah, sagt Jonas Knecht. «Die Berge haben mir in Berlin gefehlt.»
Jetzt ist er dabei, sich in St. Gallen einzuleben und den Schritt aus der freien Theaterszene an ein festes Haus zu tun mit allen Vor- und Nachteilen. Jonas Knecht muss sich keine Sorgen mehr machen ums Geld, dafür ist er eingespannt in die Administration und sieht sich mit einer wahren Mailflut konfrontiert. Aber er tröstet sich mit dem, was Manuel Bürgin vom Theater Winkelwiese in Zürich ihm prophezeit hat: «Du wirst jetzt ein Jahr lang das Gefühl haben, du bist mit allem zu spät und immer hintendrein. So ist es.»
Ein bunt gemischtes neues Ensemble
Vor allem ist das so, weil Jonas Knecht sich entscheiden musste, wen er vom früheren Ensemble behalten, und wen er neu hinzunehmen wollte. Das war ein intensiver und schwieriger Prozess. Dem neuen Ensemble gehören sieben Bisherige an und neun Neue, von Alter und Typ her bunt gemischt – und, wie er beobachtet, «sehr neugierig aufeinander». «Es war nicht so geplant, aber unser Container hat teambildend gewirkt, weil immer wieder Kolleginnen und Kollegen der gerade Engagierten vorbeigekommen sind.»
In Berlin hat Jonas Knecht erst nach drei Jahren das Gefühl gehabt, er sei wirklich angekommen. Auch St. Gallen braucht noch seine Zeit. Was ihm fehlt, das ist die Musse, um in aller Ruhe einmal Ideen zu wälzen und nachzudenken. Aber auch das wird kommen – hoffentlich.
Vrenelis Gärtli
Theaterfassung von Anita Augustin und Jonas Knecht nach Tim Krohn
Premiere: Do, 3.11., 19.30
Theater St. Gallen