Es war wieder an der Zeit, bei Ruth vorbeizuschauen und ihr ein Kapitel aus einem ihrer vielen Lieblingsbücher vorzulesen. Bis vor dreizehn Jahren hatte die Germanistin im Ruhestand mir vorgelesen; seit einer Augenoperation lese ich ihr vor. Unsere Abmachung, die wir schriftlich unterzeichnet festgehalten haben, sieht vor, dass ich ein Mal in der Woche zu ihr gehe. Unser Vertrag hat viele Klauseln, es steht auch darin, dass ich nur mit Öffentlichem Verkehr oder mit dem Fahrrad zu ihr fahren darf. Ruth hat bisher nur einmal eine Absenz akzeptiert, weil ich starke Grippe hatte.
Ich kündigte meinen Besuch am Telefon an, entschuldigte mich wortreich, ich hätte viel zu tun gehabt, deshalb sei ich letzte Woche nicht gekommen. Sie überhörte meine Entschuldigung. «Im Frühjahr sind ja unheimlich viele schöne Bücher erschienen, und ich habe noch kaum eins von diesen gelesen, schon bald erscheinen die Herbstbücher!», sagte sie mit ihrer zittrigen Stimme.
Ich wollte schon einmal meine wöchentlichen Besuche bei ihr reduzieren, indem ich versuchte, ihr schmackhaft zu machen, dass sie eines dieser Modegeräte kauft, genannt Reader, welche die Schrift vergrössern und sich der Sehschärfe ihrer blauen Augen anpassen. Nein, Ruth ist von alter Schule. Sie sagte, dass sie ein papierenes Buch in der Hand haben müsse. Und während des Vorlesens wolle sie rauchen. Ihre Zigaretten sind filterlos. Und sie stösst den Rauch genüsslich in die Luft. Die Blätter ihres Buches stinken nach Rauch. Erst dann könne ihr der Inhalt der Geschichte schmecken. Ich, als Nichtraucher, wurde nie gefragt, wie ich diesen grauen Qualm aushalte. Einmal, als ich mit einer Handbewegung den Rauch von mir wegtreiben wollte, sagte sie, dass in meiner Herkunftskultur Männer ja überall rauchten, auch im Schlafzimmer. Rauchen also dürfe mich nicht stören, und sie fragte mit Spott in der Stimme, ob ich mich hier im städtischen Leben überangepasst hätte.
Pünktlich um 14 Uhr kam ich auf dem Fahrrad ausser Atem bei ihrem Haus am Hang an. Das Gartentor war weit geöffnet, auch die Haustür. Ruth hatte schon den Zitronenkuchen angeschnitten, den Minzentee auf dem Küchentisch bereitgestellt, im Porzellankrug, den sie vor vierzig Jahren von ihrem verstorbenen Mann Heinz zum 40. Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Ruth hatte auch meinen Plan der Stunde in grosser Blockschrift (jeder Buchstabe war so gross wie eine Schnecke) an die weisse Tafel in der Küche geschrieben: 1) Dreissig Minuten aus dem Roman lesen. 2) Zehn Minuten den Auslandsteil der Zeitung zusammenfassen. 3) Zehn Minuten nur die Überschrif-ten des Inlandsteils vorlesen. 4) Zehn Minuten über ein von Ruth gewähltes Thema diskutieren. Die Stunde war damit so gut und
straff strukturiert, wie Ruth einst im Gymnasium ihre Lektion vorbereitet hatte. Und sie forderte meine Dienste mit solch einer Selbstverständlichkeit, als hätte sie mich schon im Voraus bezahlt. Dabei ging ich freiwillig, wie sechs andere Vorleserinnen und Vorleser, die sie an anderen Wochentagen besuchten.
Ich las ihr das Buchkapitel vor, ohne Pause. Sie schüttelte mehrmals den Kopf, während ich las. Offenbar nicht ob der allzu negativen Figur im Text, die nebst all den anderen schlechten Eigenschaften auch noch den Rosengarten nicht bewässerte, sondern, weil ich nicht so genau vorlas, wie sie es sich wünschte. Ich hätte immer an der falschen Stelle betont. Ruth war einst meine Deutschlehrerin, egal, wie gut ich Deutsch schreibe oder vorlese, ich bleibe der Schüler.
Der Vorlesung aus der Zeitung hörte sie kommentarlos zu. Den letzten Teil der Stunde widmete sie ihrem Sohn Ueli, der seit mehr als zwei Jahrzehnten in der Toscana lebt: «Ohne grosse Verpflichtung, tagein und tagaus!», sagt Ruth jedes Mal, wenn die Rede von ihrem einzigen Kind ist.
Ueli melde sich häufig, fast wöchentlich telefonisch, früher habe er alle fünf Monate einmal die Mutter angerufen. Er fragte neuerdings nach dem Zustand des Hauses, ob das Dach dicht sei, ob sie daran denke, es zu renovieren, ob sie die Treppe problemlos hinaufsteigen könne. Was sie gedenke, wenn sie nicht mehr laufen könne, ob ihr das Haus nicht zu gross sei, ob sie sich nicht räumlich verkleinern wolle, die Mutter seiner Frau habe ihr Haus zu einem sehr guten Preis verkauft, sei in ein Haus mit Lift eingezogen, das sei viel besser, ob ihr das Alleinsein keine Mühe bereite und so weiter. Ruth zündete die dritte Zigarette an und fragte mich, was dies meiner Meinung nach zu bedeuten habe.
Halb im Spass sagte ich, dass Ueli den Braten gerochen habe. Das sei auch ihre Feststellung, sagte Ruth und verlängerte meine Vorlesestunde. Ohne mich in die Entscheidung miteinzubeziehen, diktierte sie mir einen Brief an ihren Sohn Ueli, dass sie noch zwei Treppen auf ein Mal hinaufhüpfe, und sie sei mit den Jahren breiter geworden, deshalb sei an eine Verkleinerung nicht zu denken. Ein Lift verbrauche Unmengen Strom, sie sei mit ihrer alten Holztreppe glücklich.
Am Ende ihres Briefes liess ich mich von ihrem schallenden Lachen anstecken, und ich las ihr von mir aus zwei Gedichte vor. Sie hörte rauchend, glücklich und kopfnickend zu. Wie jedes Mal musste ich ihr noch die ganzseitigen Zeitungsinserate mit den herabgesetzten Preisen vorlesen. Laut rechnend verglich Ruth die Preise der einzelnen Artikel und diktierte mir dann ihre Einkaufsliste.
Hoffentlich kann ich meine nächste Absenz mit den heutigen Überstunden begründen.
Yusuf Yesilöz
Der Kurde Yusuf Yesilöz ist 1964 in der Türkei geboren und lebt seit 1987 in der Schweiz. Zuerst als Übersetzer aktiv, legte er 1998 seinen Roman «Reise in die Abenddämmerung» vor. Es folgten weitere Romane, Erzählungen und Kolumnensammlungen, zuletzt «Hochzeitsflug» (2011) und «Kebab zum Bankgeheimnis» (2012). Yesilöz,
der seit 1995 Schweizer ist und auf Deutsch schreibt, ist auch Dokumentarfilmer. Sein Film «True Love» ist 2006 als bester Dokumentarfilm am Film Festival Innsbruck ausgezeichnet worden.