Wir wollen durch die Welt stolzieren wie ein Storch Wir wollen gehen, ohne Geräusche zu machen Wir wollen über Wasser laufen, ohne einzutauchen Wir wollen über Schnee gehen, ohne Abdrücke zu hinterlassen Wir wollen durch die Welt schweben wie eine Feder.
Stellen Sie sich vor, Sie haben Ihre Hände auf den Hüften, die Finger graben sich tief in die Haut, so tief, dass Sie die Hüftknochen mit Ihren Fingern umschliessen können, weil nichts anderes als Haut sie noch umgibt. Die Fingerknochen klammern sich an die Hüftknochen, die Sie als Anker auf dem Boden halten. Auf diesem Boden, der sich Ihnen zu oft entzieht, Sie im Taumel aus Selbstdisziplin und Selbstzweifel – aus Verzweiflung über sich selber – drehen lässt. Stellen Sie sich vor, Sie scheitern jeden Tag damit, Ihre Hüftknochen mit diesen dünnen Fingern so fest zu umfassen, dass Sie nicht taumeln, schwanken, fallen. Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einem Spiegel, während Sie sich an Ihre Hüftknochen klammern, und was Sie sehen, raubt Ihnen den Atem. Zu gross, zu umfassend, zu monströs erscheint Ihnen das, was Sie sehen, als dass Sie dieses Bild im Spiegel ertragen. Doch Sie können Ihren Blick nicht davon lösen. Stellen Sie sich vor, dieses Bild – dieses zu grosse, monströse – hält Sie dazu an, Ihren Mund zu verschliessen: Vor jedem Lob, jeder Bestätigung, vor allem aber vor jedem Bissen. Das Bild im Spiegel prallt auf die Knochen, die Sie mit Ihren Fingern fest umschliessen, lässt unter Ihren Fingern Fett entstehen, schwammiges, aufgedunsenes, weiches Fett, das Ihre Hüftknochen überzieht und Ihre Finger daran hindert, sich an sie klammern zu können. Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Skelett, das sich vor seinem eigenen Blick verbirgt.
Ich werde da sein, wenn du in den Spiegel schaust und statt einem hungernden Kind einen Sumo-Ringer siehst. Ich werde dir zeigen, wovor du dich fürchten sollst und was du ohne mich sein wirst. Und du musst mir glauben. Von jetzt an gibt es für dich nur noch eine Wahrheit. Diese bestimme ich. Ich bin deine Wahrheit.
Schwer vorstellbar, diesen knöchernen Körperzustand mit diesem wuchtigen Bild im Spiegel zu vereinen. Noch schwerer vorstellbar, dass unzählige junge Menschen, zumeist Frauen, genau dies tun – in jeder Sekunde ihres Seins, Atmens, Lebens. Umso absurder der Umstand, wie wenig Licht dieses Phänomen erhält, in der Gesellschaft wie auch in der Kunst, diesem Schwamm zeitgenössischer Zustände. Ein Phänomen, das alle Schichten durchwandert, sich eingeschlichen hat in die Köpfe, die Körper, die Menschen. Es macht sich so schmal und klein, so unsichtbar und unscheinbar, wie all diejenigen es werden wollen, die ihm verfallen.
- Es scheint immer unmöglich, bis es geschafft ist
- Befrei mich aus meiner Hölle
Setzen Sie sich an Ihren Computer, öffnen Sie den Internet-Browser und googeln Sie den Begriff «Pro Ana Blog». Klicken Sie auf einen der Vorschläge, und fangen Sie an zu lesen. Begeben Sie sich für einen Moment in diese verschworene Gemeinschaft, die dennoch auf wackeligen Beinen steht. Wortwörtlich. Bald werden Sie schwer schlucken, im Erstaunen, im Unglauben, im Schreck vielleicht. Und dann sollten Sie weiterlesen. Um zu verstehen, welche Ausmasse dieses Phänomen hat, um nicht zu verstehen, wie jemand so mit sich selber umgehen kann, um sich bewusst zu werden, wie tief greifend dieses Problem sein kann. Und schon ist. Hier unter uns, in unserer Gesellschaft.
Hunger ist schön
Ana ist Liebe
Stellen Sie sich vor, Sie fühlen sich von der Welt missverstanden, allein gelassen, vergessen. In dieses Gefühl, diese Traurigkeit, diese Ohnmacht tritt plötzlich eine Gestalt, und Sie haben in ihr eine neue Freundin an Ihrer Seite. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine wunderschöne, immer verfügbare Freundin, die all Ihre Sorgen versteht und Sie dazu anhält, ein besserer Mensch zu werden. Diese Freundin heisst Ana. Und was Ihnen als Ihre neue und treuste Gefährtin erscheint, wird Ihr Tod sein. Stellen Sie sich vor, das sei Ihnen egal. Weil Sie keinen Wert haben, weil Sie ein Niemand sind, ein Nichts.
Ich habe heute keinen Bissen gegessen, ich habe heute vergessen, wie man Kind ist. Dieses Heute dauert schon eine Ewigkeit. Und währenddessen denke ich daran, wie es morgen sein wird, denn morgen wird alles anders.
Dieser süsse Traum vergiftet mich heute. An diesem süssen Traum bin ich heute gestorben. Ich habe alles falsch gemacht.
Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Schmetterling, aber Ihr Kopf sagt Ihnen, Sie seien zu dick zum Fliegen. Stellen Sie sich vor, um Sie herum gibt es keine Stimmen, um diejenige in Ihrem Kopf zu übertönen. Weil zu wenige darüber sprechen. Stellen Sie sich vor.