Er sei die «Sensation des Literaturherbstes», das «Wunder von Genf»: Joël Dicker, der Autor des Bestsellers «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert». Der Jüngling habe gewagt, «es den Grössen des Fachs, also etwa Philip Roth oder John Irving, nicht nur gleichzutun, sondern sie streckenweise an Raffinesse sogar noch zu überbieten» («Die Zeit»). Da habe ein Welscher einen US-amerikanischen Roman geschrieben; «ein Wunderbuch», nannte es der «Tages-Anzeiger». Zum Inhalt: Im Garten des Literaturprofessors Harry Quebert wird die Leiche seiner Ex-Geliebten, der 15-jährigen Nola, gefunden. Harrys Schüler Marc, ein aufstrebender Autor, glaubt nicht daran, dass sein Freund und Mentor ein Mörder sein soll. Er beginnt zu ermitteln und verarbeitet seine Ergebnisse zu einem Roman.
Die mehrheitlich männlichen Rezensenten können es nicht fassen, wie jemand mit 28 Jahren einen derartig raffinierten Roman schreiben kann. Die Rezensentinnen verweisen auf Dickers fabelhaftes Aussehen, seinen Charme, das Fehlen von jeglichen Starallüren. Eine «Annabelle»-Journalistin vermutet, «die ersten Groupies» würden «nicht mehr lange auf sich warten lassen», und wirft sich ihm gleich selber vor die Füsse: «Er sieht aus wie ein junger, aufstrebender Schauspieler, über einen Meter neunzig gross, sportliche, frisch geduschte Ausstrahlung, offener Blick, markante Augenbrauen, die dem Gesicht Charakter verleihen.» Und als Schlussfolgerung: «Bezaubernderweise scheint er sich seiner Wirkung überhaupt nicht bewusst zu sein.»
Was den Kritikerinnen nicht aufzufallen scheint: Niemand verliert ein Wort darüber, dass sämtliche weiblichen Figuren als Füllmaterial dienen im Beziehungsnetz zwischen den im Vergleich dazu geradezu komplex angelegten Männern. Tiefpunkte sind jeweils die Telefongespräche zwischen dem Protagonisten Marc und dessen Mutter, einer hysterischen, unfassbar beschränkten Frau. Alle anderen, von der Protagonistin Nola über deren Freundinnen bis hin zu diversen Ehe- und Hausfrauen, sind ähnlich einfältig, naiv und unterwürfig.
Zu viele Klischees
Alle männlichen Rezensenten werfen Dicker dasselbe vor, wenn sie ihn doch ein wenig tadeln: Seine Figuren blieben etwas oberflächlich; er verwende zu viele Klischees. Aber es fehlt der Hinweis, dass dies vor allem Frauenklischees sind. So erfährt man bis zum Schluss nicht, warum Nola diesen Harry so liebt, weil der Autor die beiden nur floskelhafte Liebesschwüre austauschen lässt. Man hat den Eindruck, nicht einmal der Autor wisse, was in Nola vorgeht.
Da irritiert es, dass fast das gesamte Feuilleton einen Jungautor als Wunderkind feiert, der ein derart antiquiertes Frauenbild hat.
Joël Dicker
«Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert»
736 Seiten
(Piper 2013).
Joël Dicker
1985 in Genf geboren, besuchte Joël Dicker das Collège Madame de Staël, zog mit 18 nach Paris, studierte ein Jahr lang Schauspiel und kehrte für sein Jus-Studium nach Genf zurück. 2005 gab er mit «Le Tigre» sein literarisches Debüt, blieb aber unbeachtet. «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» ist sein zweiter Roman. Er war für den Prix Goncourt des lycéens nominiert. Gewonnen hat er den Grand Prix du Roman der Academie Française und den Prix littéraire de la vocation, einen Förderpreis für junge Romanciers.