«Worüber ich nun schreibe, dazu gibt mir nicht die Erinnerung das Recht, sondern die Sprache», führt sich der namenlose Ich-Erzähler im wortgewaltigen Roman «Der Himmel auf ihren Schultern» ein. Er macht mit seinen ausführlichen Beschreibungen schon bald deutlich, dass er als Alter Ego des russischen Autors Sergej Lebedew auftritt. Und erzählt eine Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht.
Ein namenloser Protagonist berichtet von sich und seinem zweiten Grossvater, einem alten blinden Mann, der als Gärtner im Haus neben seinen Eltern wohnt. Die beiden finden auf ungewöhnliche Weise zueinander. Schon vor der Geburt rettet der seltsame Alte dem Protagonisten das Leben. Wegen Schwierigkeiten in der Schwangerschaft steht ein Abbruch zur Diskussion. Fortan wird sich der Blinde um den Knaben kümmern, als ob er sein eigener Enkel wäre. Und die Bande werden noch stärker. Als der Junge von einem Hund angefallen wird, rettet der Alte ihm mit seinem Blut das Leben.
Spurensuche
Doch trotz all dieser Vorkommnisse wird keiner warm mit diesem sonderbaren Mann: «Ihm schien prinzipiell niemand Gefühle entgegenzubringen, das Verhältnis wurde eher vom Verstand als vom Herzen bestimmt. Vermutlich schämte sich jeder dafür und meinte, es läge an ihm selbst, und zwang sich zu falschen Gefühlsäusserungen», erinnert sich der Ich-Erzähler. Erst nach dem Tod des Alten stösst der Protagonist auf einen Pappkarton mit alten Orden, die ihn stutzen lassen. Sie deuten darauf hin, dass der zweite Grossvater für lange Zeit in Sibirien gelebt hat. Die Spurensuche wird eine abscheuliche Vergangenheit zutage fördern: Der Alte war Kommandant eines stalinistischen Straflagers.
Der Schriftsteller Sergej Lebedew wurde 1981 in Moskau geboren, zu jung, um den Gulag selbst erfahren zu haben. Aber alt genug, der Vergangenheit im Alltag zu begegnen. Bereits als Teenager hatte er in den 1990er-Jahren Gelegenheit, bei geologischen Expeditionen in Zentralasien und im Norden Russlands dabei zu sein. Er erlag der Faszination Sibiriens und entdeckte verfallene Baracken und Stollen, in denen früher Häftlinge arbeiten mussten.
Die Begegnung mit der Vergangenheit, vielmehr noch «der Verfall des physischen Beweises, der Existenz der Gulags», liessen ihn nicht mehr los. «Wenn du das gesehen hast, dann kannst du nicht mehr sagen, dass du damit nichts zu tun hast», sagte der Autor im Interview mit dem Osteuropa-Magazin «Ostpol».
Realer Hintergrund
Hinzu kam, dass Lebedew auf weitere reale Begebenheiten zurückgreifen konnte. Der zweite Mann seiner Grossmutter war ein Tschekist, ein Mitglied der Staatssicherheit also, und Lagerkommandant, was Lebedew allerdings erst Jahre nach dessen Tod bei der Durchsicht von Unterlagen seiner Grossmutter erfuhr. Niemand in der Familie wusste von seiner Vergangenheit und seinen Auszeichnungen, die er im Jahr 1937 zur Zeit des Grossen Terrors erhalten hatte.
In den 70ern und 80ern seien in Russland alle ehemaligen Untersuchungsrichter und Lagerkommandanten aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden, sagt Lebedew. «Sie maskierten sich, lösten sich geradezu auf unter den Menschen. Sie verwandelten sich in Gespenster, wurden zu Schweigern.»
Dass Lebedew den Mut fand, dieses Schweigen zu brechen, dankten ihm seine Landsleute. Sein Buch stand in Russland im Jahr 2011 auf der Longlist für den Preis «Nationaler Bestseller». «Viele Menschen haben mir gesagt, dass sie in der Figur des ehemaligen Lagerkommandanten, der seine Vergangenheit verheimlicht, ihre eigenen Verwandten erkannten», erzählt er.
Lebedews Roman ist ein sprachgewaltiges Werk, das dem Leser Leben und Überleben in Sibirien in ausführlichen Bildern beschreibt. Teilweise mag das etwas überladen und schwülstig wirken, denn Lebedew verliert sich gerne in seiner Gedankenwelt. Aber trotz seiner Längen ist der Roman ein beeindruckendes Werk, das nachhaltig wirkt.
Sergej Lebedew
«Der Himmel auf ihren Schultern»
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg
336 Seiten
(S. Fischer Verlag 2013).