Havanna, 1939: Das Linienschiff MS St. Louis ist mit 937 jüdischen Flüchtlingen an Bord in Kuba gelandet. Trotz in Berlin erworbener Visa wird den Juden die Einreise verweigert. Zu klein sind ihre Mittel, zu viel verlangt die Regierung im Tausch für die Einreise. Notgedrungen muss das Schiff nach Europa zurückkehren. Für viele der Flüchtlinge eine Reise in den sicheren Tod. Dieses dunkle Kapitel in der kubanischen Geschichte markiert den zentralen Ausgangspunkt von Leonardo Paduras Roman «Ketzer».
Verbotenes Bild
Auch der Familie des bereits bei seinem Onkel in Havanna lebenden Daniel Kaminsky wird die Aufnahme verwehrt. Ein wertvoller Gegenstand, den die Eltern des jungen Kaminsky im Gepäck mitführen, wechselt trotzdem die Seite: ein Jesus-Porträt aus der Hand von Rembrandt. Der Besitz dieses Bildes bedeutet für gläubige Juden an sich schon Ketzerei. Götzen und Heiligenbilder zu schaffen und anzubeten, ist ihnen strengstens untersagt.
Dennoch prägt dieses Bild die Geschichte der Kaminskys und führt später Daniels Sohn Elias zurück ins Kuba der Gegenwart. Dieses marode Kuba ist geprägt vom Niedergang des kommunistischen Staates von Fidel Castro, vom Überdruss der Revolution. Exemplarisch dafür steht der sympathische Ex-Polizist Mario Conde, der schon in früheren Werken von Leonardo Padura die Erzählstränge zusammenhielt. Der desillusionierte Conde ist Buchantiquar geworden und verbringt seine Tage vornehmlich mit Trinken und melancholischen Rückblicken auf die guten alten Zeiten. Als Elias Kaminsky aus Miami ihn anheuert, um Licht in die Geschichte des verlorenen Rembrandts – und damit in die Geschichte seiner Familie – zu bringen, ist Conde vorerst nur des saftigen Salärs wegen interessiert. Bald aber nimmt seine Neugier überhand, und die Detektivarbeit wird auch zu einer persönlichen Suche.
Dem kubanischen Autor gelingt ein Glanzstück: Er schafft es, die Geschichte des Rembrandt-Bildes vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart, die Leidensgeschichte eines immer wieder vertriebenen Volkes, der Juden, sowie die heutigen Verhältnisse im maroden Karibikstaat geschickt zu verknüpfen.
Abtrünnige
Padura bettet fiktionale Elemente in die historische Realität ein. Mit schnörkellosen Sätzen schafft er einen literarischen Krimi mit zahlreichen Verweisen. Diesen Detailreichtum könne man auch auf seinen zu «etwa drei Vierteln manischen Charakter» zurückführen, schreibt Padura im Nachwort.
«Ketzer» besteht gewissermassen aus drei Büchern: Das Buch Daniel, das Buch Elias und das Buch Judith. Sie alle handeln von Abtrünnigen. Da ist es hinfällig, ob diese nun im reichen Amsterdam um 1640, im Havanna von 1939, demjenigen kurz vor der kubanischen Revolution oder in der Gegenwart leben. Vom Glauben abgefallen sind sie alle. Sei dies Rembrandt, der Jesus malte, Daniel Kaminsky, der sich vom jüdischen Glauben lossagte, oder Mario Conde, der die Revolution und deren Folgen infrage stellt. Padura gelingt ein Werk über Freiheit und Selbstbestimmung, das durchwegs zu überzeugen weiss.
Leonardo Padura
«Ketzer»
656 Seiten
(Unionsverlag 2014).