SYMPATHY FOR THE DEVIL! Hänschen klein ging allein. Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber.
Nein, liebe Leser des kulturtipp, das Textprogramm meines Computers ist nicht von einem bösartigen Virus befallen. Ich habe auch (zumindest soweit ich das feststellen kann) nicht den Verstand verloren. Eigentlich, so hatte ich mir vorgenommen, sollte das eine ganz normale Glosse werden, aus lauter guten kulturellen Zutaten gebacken und mit gerade genügend Bildung bestreut, um bei den Abonnenten dieser Zeitschrift gut anzukommen. Aber dann …
Grr grr zapp! Grr grr zapp!
Oder, noch besser: Grr grr zapp!
Ich habe mich befreit! Ein für alle Mal! Nie, nie wieder soll der Würgegriff des sinnhaften Verstehglossierens mir die Kehle abdrücken.
Venceremos! Aazelle, Bölle schelle.
Sie sind ein bisschen verwirrt? Sie haben kein Wort kapiert? Sie wissen überhaupt nicht, worauf ich hinaus will? Sehr gut! Ich kann also erfreut feststellen, dass meine Befreiungsaktion Erfolg hatte. Ich stelle mich schon mal auf Literaturpreise ein. Die ich dann im Pyjama in Empfang nehmen werde. Oder vielleicht in burmesischer Volkstracht. Es passt eigentlich alles, solang es bloss nicht passt.
I like smoke and lightning, wie schon die Philosophen von Steppenwolf so richtig sangen. Born to be wild, yeah!
Falls Sie ungefähr hier beschliessen sollten, diesen Text türenknallend zu verlassen, dann machen Sie einen grossen Fehler. Die andern Leser werden nämlich alle denken, Sie seien kulturaktuell nicht ganz auf der Höhe. Oder (was ja in etwa dasselbe ist) Sie liessen einen Tag vergehen, ohne das Feuilleton des TagesAnzeigers gründlich gelesen zu haben. Ausgerechnet jenes Feuilleton, in dem ich den Satz gefunden habe, der mein Schreiber-Leben so gründlich verändert hat.
Ich gebe zu: Beim ersten Lesen hat mich seine Aussage nur irritiert, und ich musste eine ganze Weile darüber nachdenken. Aber seit ich ihn in seiner ganzen Tragweite verstanden habe …
Andra moi ennepe, musa, polytropon, hos mala polla. Auf der Alm, da gibt’s ka Sünd.
Ah, tut das gut.
Der Satz, den ich meine, stand in einer Theaterkritik. Ich hatte die besprochene Inszenierung nicht gesehen, und ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob ich sie unbedingt sehen will. Aber dieser eine, dieser wunderbare Satz … Seit ich ihn gelesen habe, betrachte ich die Theaterwelt – nein, was sage ich:
die Kultur überhaupt – mit ganz anderen Augen. So ähnlich muss sich Adam gefühlt haben, nachdem er vom Baum der Erkenntnis gekostet hatte.
Schluck, schluck, mampf.
Es ging in dieser Kritik um Shakespeares «Macbeth», und der Kritiker meinte, man müsse das Stück «aus der machtvollen Tradition des sinnhaften Verstehtheaters herauslösen, die das Bühnengeschehen seit Jahrhunderten im Würgegriff hält».
Man muss sich diesen Satz auf der Zunge zergehen lassen. Muss ihn sich ganz langsam in die Venen träufeln, bis er dann im Hirn diesen wunderbaren Flash auslöst. Muss lange und gründlich darüber nachdenken, bis man ihn wirklich, wirklich verstanden hat. Aber dann …
(Hier sollten eigentlich zehn Seiten aus dem letzten Jahresbericht des Club of Rome folgen, oder ersatzweise die tamilische Übersetzung von «All you need is love», aber die altmodische Redaktion des kulturtipp hat mir das wegen Überlänge rausgestrichen. Also gleich weiter mit meinem Gedankengang nach der Lektüre dieses Satzes:)
Sinnhaftes Verstehtheater, fing ich an zu überlegen? Kann das etwas anderes bedeuten, als ein Theater, das man als Zuschauer versteht und dessen Inszenierungen einen Sinn ergeben? Und diese Art von Theater hält das Bühnengeschehen im Würgegriff? Seit Jahrhunderten? Ohne dass es jemandem aufgefallen wäre? Wow!
Wenn man diese Erkenntnis erst mal in ihrer vollen Tragweite erfasst, dann stellt sie das Bild, das man von der Welt und vor allem vom Theater hat, mindestens so grundsätzlich infrage wie die Mitteilung, dass das Rote Kreuz eigentlich eine Mafia-Organisation sei und Penicillin ein Rauschgift. Dann habe ich mich ja als Theatergänger ein Leben lang würgen lassen.
Und dann sind ja die Regisseure, die Theaterstücke kleinhacken, die klassische Texte durch ihre eigenen Einfälle ersetzen, die mit Videoeinspielungen und Rocksongs dafür sorgen, dass der Zuschauer vom Inhalt des Werks möglichst nichts mitbekommt – dann sind das ja alles gar keine egomanischen Selbstdarsteller, sondern Freiheitskämpfer. Helden. Guerilleros der Anti-Würgegriff-Fraktion. Ich bin ja so froh, dass mir das endlich mal jemand erklärt hat.
Trali, trala.
Aber wenn das im Theater so ist, dann fordere ich ab sofort gleiches Recht für alle Sparten der Kultur. Quod licet Iovi auch licet Doofi. Was fürs Theater gilt, muss – unter vielem anderen – auch für die Glossenschreiberei gelten. Stimmen Sie also mit mir in den Kampfruf ein: Nieder mit dem sinnhaften Verstehen! Viva la revolución!
Alle meine Entchen schwimmen auf dem See.
Bumm.
I like smoke and lightning.
Charles Lewinsky
Der 1946 in Zürich geborene Schriftsteller und Regisseur schreibt Hörspiele, Romane sowie Theaterstücke. Zudem verfasste er TV-Shows und Drehbücher. Sein jüngster Roman
«Kastelau» erschien 2014.