Babyboomer erinnern sich an jene Samstagnachmittage in den 70er-Jahren, als der Vater das Auto aus der Garage holte und den Vorplatz in eine Waschanlage verwandelte. Die Mutter zog derweil die Fruchtwähe aus dem Ofen, und im Radio säuselte als kleinbürgerlicher Soundtrack jene Musik, welche die Teenager der Nachbarn als «Hudigäggeler» beschimpften. Willkommen im Klischeebad verbleichter Erinnerungen.
Dass diese mit der Gegenwart nicht mehr viel zu tun haben, liegt vor allem an jener lüpfigen Musik, die sich heute wachsender Beliebtheit erfreut. Dies zeigen Zahlen zum Eidgenössischen Volksmusikfest, das Ende Monat in Bellinzona stattfindet. Aus allen Landesteilen reisen 1469 Musizierende an, die sich in 244 Formationen auf 17 Plätzen und Bühnen der Tessiner Hauptstadt in Konzerten präsentieren und einen Festumzug bestreiten, der von den vier nationalen TV-Stationen live übertragen wird
Zehntausende Besucher werden erwartet
Sowohl das musikantische Engagement wie auch das Publikumsinteresse an Volksmusik war kaum je grösser. Die Veranstalter vom Verband Schweizer Volksmusik (VSV) erwarten Zehntausende von Gästen. Am letzten Volksmusikfest 2019 in CransMontana waren es 80'000 Besucher, vier Jahre zuvor in Aarau gar 100'000. Der musikalische Grossanlass findet seit seiner Lancierung 1971 nur alle vier Jahre statt.
«Die Vorbereitungsarbeiten sind enorm», sagt Ralph Janser, Zentralpräsident des VSV. Zudem solle der Anlass den Musizierenden einen seltenen Höhepunkt bieten, auf den sie hinarbeiten könnten. «Das Volksmusikfest dient dem gesamtschweizerischen Austausch von Musik, Sprachen und Kultur», erklärt Janser. «Uns ist wichtig, dass die Sprachgrenzen überwunden werden und Freundschaften entstehen können.»
Dieser Austausch funktioniert seit einigen Jahren immer intensiver, weil auch die Schweizer Volksmusik mit der Zeit geht und die Diversität und Professionalisierung zelebriert. Unter den 244 nach Bellinzona reisenden Gruppen dominieren zwar noch immer die traditionell besetzten Familien- und Dorfformationen. Dem Austragungsort ist aber zu verdanken, dass auch 60 Formationen aus dem Tessin zu hören sind. Darunter zahlreiche Bandelle, kleine Blasorchester also, die an Dorffesten, Hochzeiten oder Beerdigungen aufspielen
Die einen klingen rockig, die anderen jazzig
Auch zur Eröffnung von «Bellinzona 2023» tritt ein Tessiner auf, der spezielle Töne anschlägt. Marco Zappa (74) aus Locarno ist ein wohlbekannter Cantautore, der sich zwar auf die Folklore seiner Heimat bezieht, diese aber mit Pop und Folk durchzieht. Am selben Donnerstagabend sind The Vad Vuc aus dem Val Poschiavo zu hören, die locker als Rockband durchgehen könnten.
Dass und wie die Volksmusik sich mit anderen Klangsprachen durchmischt, zeigen zudem Bands wie Gläuffig oder Alpinis, die der «Neuen Volksmusik» zuzuordnen sind und auch Elemente aus Jazz und aus internationalen Folkloren einfliessen lassen. Von solchen Bands verspricht sich VSV-Zentralpräsident Ralph Janser nichts weniger als die Weiterentwicklung und Verbreitung der Volksmusik. Eine Haltung, die wohl nicht alle teilen werden, die nach Bellinzona reisen
Im Gegensatz zu anderen Festivals wie Alpentöne in Altdorf oder Klangwelt im Toggenburg, welche die Innovation der Volksmusik gezielt thematisieren, sind die «Echos», Örgeliund Ländlerfründä am Eidgenössischen Volksmusikfest aber noch in der Mehrzahl.
14. Eidgenössisches Volksmusikfest
Do, 21.9.–So, 24.9.
Altstadt Bellinzona
Vier Fragen an Ralph Janser:
«Was heute als innovativ gilt, wird in einigen Jahren zur Tradition»
kulturtipp: Dieses Jahr treten 244 Formationen am Eidgenössischen Volksmusikfest auf. Mussten sich diese Gruppen bewerben, oder wurden sie angefragt?
Ralph Janser: Sie konnten sich übers Internet anmelden. Und sie konnten wählen, ob sie an einer Jury-Bewertung teilnehmen möchten. Einige Formationen wurden von uns und vom OK für das Rahmenprogramm direkt angefragt. Besonders gefreut haben uns die vielen Jungformationen.
Tatsächlich erfreut sich Volksmusik gerade bei der jungen Bevölkerung einer steigenden Beliebtheit.Worin gründet dieses Interesse?
Viele junge Musizierende wollen nebst der klassischen auch die Volksmusik kennenlernen und spielen. Dies wohl auch, weil vieles aus der Geschichte der Volksmusik durchaus anspruchsvoll und alles andere als einfach zu spielen ist. Die speziellen Harmonien und Taktarten der Volksmusik etwa fördern die instrumentale Virtuosität.
Volksmusik kann heute sogar studiert werden. Was halten Sie von dieser Art der Professionalisierung?
Als bisher einzige schweizerische Hochschule bietet die Hochschule Luzern dieses Profil an. Als Dozierende wirken Volksmusikgrössen wie Markus Flückiger, Christoph Pfändler oder Nadja Räss. Unter Volksmusikanten gab es schon immer auch Profis. Dieser Abschluss bietet den Absolventen die Möglichkeit, als Musiklehrer zu arbeiten und so die jungen Musizierenden zu fördern.
Viele der Studierenden mischen Volksmusik mit anderen Klangsprachen. Wie beurteilen Sie diese «Neue Volksmusik», und wie wird sie in traditionellen Kreisen aufgenommen?
Was heute als innovativ gilt, wird in einigen Jahren zur Tradition. Dies konnte in der gesamten Entwicklung der Volksmusik nachgewiesen werden. Das Innovative fördert die ganze Entwicklung der Szene. Dies zeigt sich auch darin, dass neue Märkte erschlossen und ein jüngeres Publikum gewonnen werden kann.
Ralph Janser ist Zentralpräsident Verband Schweizer Volksmusik (VSV)
Bellinzona 2023 am Radio und TV
Für die Berichterstattung über das Eidgenössische Volksmusikfest 2023 arbeiten die SRG-Senderketten zusammen. Es gibt aber auch zahlreiche Einzelsendungen:
Radio:
Do, 21.9., 20.00, SRF 2 Kultur, Rete Due, Espace 2 «Pavillon Suisse» live von der Piazza del Sole Fr, 22.9., 20.00, SRF Musikwelle «Zoogä-n-am Boogä» So, 24.9., 10.00, Rete Uno «La Domenica Popolare»
TV:
Sa, 23.9., 18.15, SRF 1, RTS 2, RSI 1 «Bella Musica», Gemeinsame Volksmusiksendung aller Landesteile So, 24.9., 14.00, SRF 1, RSI 1, RTS 2 Live-Übertragung des Festumzugs