Als Notre Dame brannte, hielt ganz Frankreich den Atem an. Nach den Tränen folgten Spenden in Millionenhöhe. Auch der Videospielentwickler Ubisoft griff in die Tasche und bot den Trauernden zudem kostenlos die Möglichkeit, die Kathedrale im Computerspiel «Assassin’s Creed Unity» zu erkunden. Darin lässt sich Notre Dame zur Zeit der Französischen Revolution aus Sicht eines «Assassinen» erleben: schleichend, kletternd und mordend. Ob solche Action Trost spendet, ist fraglich.
Plötzlich mitten in der Szenerie
Anderswo ist die Wirkung unbestritten: «Die virtuelle Rekonstruktion von Kulturgütern wie Synagogen ist emotional besetzt», sagt Dominik Landwehr von Migros-Kulturprozent. Der Herausgeber und Mitautor des Bandes «Virtual Reality» weiss von Menschen, die zerstörte Bauwerke von früher kannten und beim Eintauchen in die Virtual Reality (VR) in Tränen ausbrachen.
Über 1500 Synagogen fielen den Nazis in Deutschland zum Opfer. Marc Grellert, der an der TU Darmstadt «Digitales Gestalten» lehrt, hat mit seinem Team in den letzten 25 Jahren 25 davon digital rekonstruiert. Was Mitte der 90er noch in 3D-Modellen erstellt und auf gerahmten Ausdrucken in Museen vermittelt wurde, wird nun mit VR-Brillen erfahrbar. Statt nur als Zuschauer durch eine Synagoge zu gehen, könne man sich hinsetzen und so selbst zum Teil der Gemeinde werden, erklärt Landwehr.
Nicht nur Krieg und mutwillige Zerstörung durch Terroristen, sondern auch der Zahn der Zeit nagt oft an Kunstwerken. Und Touristenströme, die etwa schädliche Feuchtigkeit hineinbringen. Digitale Rekonstruktion in VR kann in solchen Fällen den Besuch ersetzen. «Kulturgüterrettung» ist für Landwehr aber das falsche Wort: «Man sollte nicht von Retten sprechen, sondern von einem Beitrag zum kollektiven Erinnern.»
Dies leisten Dutzende Projekte, von denen nun einige an Aktionstagen im Kosmos Zürich und im HeK Basel vorgestellt werden. Neben Marc Grellert ist auch Peter Fux vom Museum Rietberg zu Gast. Er sieht VR einzig als wissenschaftliches Hilfsmittel und allenfalls als Ergänzung zur realen Betrachtung: «Es besteht ein zu grosses Vertrauen in die digitale Technologie. Sie kann das Menschliche nicht ersetzen.» In Zukunft werde man sich wieder aufs Original und den handwerklich-künstlerischen Umgang zurückbesinnen, ist er überzeugt.
Landwehr hingegen glaubt, dass VR in Bezug auf die Weitergabe des Kulturerbes den Markt verändert. Weil die Technik immersiv wirke – also das komplette Eintauchen in eine Scheinwelt erlaube –, würden Zuschauer unweigerlich zum handelnden Teil. Ob der Trend von historischen Museen bald auch in die Kunst überschwappt? «Wohl eher nicht», so Landwehr: «Anders als historische Bauten werden Kunstmuseen auch in Zukunft von der Aura der ausgestellten Werke leben.»
Virtual Reality
Aktionstag & Buchpräsentation «Virtual Reality: Neues Leben für zerstörte Kulturgüter»
Mi, 26.6., 14.00–20.00 Kulturhaus Kosmos Zürich
Do, 27.6., 14.00–20.00 HeK – Haus der elektronischen Künste Basel
Anmeldung: https://www.digitalbrainstorming.ch/de/program/palmyra
Buch
Dominik Landwehr, Migros-Kulturprozent (Hg.)
Virtual Reality
300 Seiten
(Edition Digital Culture 6 2019)