Meine Grossmutter sagte: «Wenn wir uns anschickten, Hüte zu machen, kämen die Kinder ohne Kopf auf die Welt.» Damit wollte sie sagen: Wenn wir, gemeint war ihre Familie (und wohl auch ihre Nachkommen), etwas anpacken, geht es immer schief, überwiegt immer das Pech, oder es ist zu spät. Dass diese pessimistische Ansicht auf meine Mutter übergeschwappt war, merkte ich, als ich mit dem Bücherschreiben begann.
Sie besuchte eine meiner ersten Lesungen. Das müsste Anfang der 90er-Jahre gewesen sein. Es war ein Anlass zum Thema Buch, und die Quintessenz der Diskussion unter den eingeladenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern war: Das Buch werde bald einmal unbedeutend werden, wenn nicht sogar verschwinden. Nach der Lesung sagte meine Mutter zu mir: «Wenn wir mit etwas beginnen, ist es bereits vorbei.»
Trotz diesen dunklen Prophezeiungen habe ich seither nicht aufgehört, Zeit und Energie in das Schreiben von Geschichten zu investieren. Geschichten, die lange in meinem Kopf herumschwirren, kommen zwischen zwei Buchdeckeln endlich zur Ruhe. Eine
Geschichte kann man auch mündlich erzählen, aber wenn sie gelesen werden soll, wird sie erst in einem Buch wirklich fassbar, so empfinde ich es zumindest. Ich publiziere mittlerweile auch digital, vor allem wissenschaftliche Texte, aber in diesem Fall habe ich immer das Gefühl, der Text sei nicht wirklich da.
Hiobsbotschaften zum Buch hat es in den letzten Jahren mehrere gegeben. Und doch hält dieser eigenartige und uralte Gegenstand hartnäckig allen Widrigkeiten stand. Die ältesten Vorläufer des Buches, die Papyrusrollen der Ägypter, sind über 5000 Jahre alt. Das Buch, so wie wir es heute kennen, stammt aus dem 15. Jahrhundert. 1452 druckte Gutenberg die erste Bibel.
Trotz dieser langjährigen Geschichte wird aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung das Buch heute immer weiter an den Rand gedrängt. Aber der moderne Mensch braucht weiterhin Bücher, denn sie bilden einen Gegenpol zur immateriellen Welt des Digitalen.
Der grosse Vorteil digitaler Medien, sagt man, sei ihre Interaktivität. Aber gibt es etwas Interaktiveres als ein Buch? In ein Buch kann man hineinschreiben, man kann die Ecken zu Eselsohren falten, um am nächsten Tag weiterzulesen, man kann mit dem Finger den Linien nachgehen, man kann am Papier riechen – alte Bücher haben einen anderen Geruch als neue. Bücher kann man überallhin mitnehmen, sie brauchen keinen Strom. Auf Bücher lassen sich Spuren setzen, Flecken, Risse, Notizen, Widmungen.
Bücher kann man ausleihen, sammeln, verschenken, tauschen, man kann sie ins Bücherregal versorgen, nach 100 Jahren wieder herausnehmen, und sie sind immer noch da, das Papier etwas vergilbt, aber man kann noch darin lesen. Bücher sind langlebig. Bevor sie spröde werden und die Seiten herausfallen, müssen weitere 100 Jahre vergehen. Seit es Bücher gibt, wird in ihnen das Wissen der Menschheit aufbewahrt.
Wir können die Gedanken von Philosophen lesen, die vor mehr als 2000 Jahren gelebt haben. Die Disketten, auf denen man vor 30 Jahren Texte speicherte, kann heute hingegen kein Computer mehr lesen. Alles verliert sich in der immateriellen und flüchtigen Welt des Digitalen, nur das Buch bleibt beständig.
Bücher atmen, leben, sie bekommen mit der Zeit Falten, altern, wie Menschen. Bücher sind menschlich. Sie haben eine physische Ästhetik, strotzen vor Vielfalt, es gibt sie in allen Formen und Farben. Wahrlich, lesen kann man auch ohne Bücher, aber so entgeht einem eine sinnliche Erfahrung. Denn das Buch erzeugt einen intimen Bezug zum Lesen. Es wirkt entschleunigend, entspannend, und vom Buch prallt einem kein helles Licht ins Gesicht.
Menschen brauchen Geschichten, sonst verstummt etwas in ihnen. In den Geschichten zeigt sich die Überlegenheit des menschlichen Geistes. Geschichten gelangen durch Bücher zu den Menschen.
In meinem ersten Roman «Das Krallenauge», der um die Jahrtausendwende erschienen ist, geht es um einen Büchernarren namens Gutenberg. Er sammelt fieberhaft Bücher und verzweifelt an der Vorstellung, dass er sie niemals alle wird lesen können. Literatur hat etwas Antizipatorisches. Gutenberg kommt gegen die Flut an Geschriebenem nicht mehr an. Die Digitalisierung hat die Geschichten mit einer nie dagewesenen Informationsflut ersetzt, der wir nicht mehr gewachsen sind.
Ich gehe jeden Samstag in die Abfalldeponie. Dort gibt es eine Ecke mit einem Regal, wo Bücher entsorgt werden. Es ist eine Art Bücheraltersheim, und ich finde immer eines, das ich nach Hause mitnehme. In einer anderen Ecke steht eine Kiste mit ausgedienten Computern, Laptops, Kabeln. Sie liegen dort stumm und kalt, die Bücher hingegen sprechen immer zu mir.
Während der Pandemie gab es eine Lesewelle, jetzt werden Bücher wieder massenweise entsorgt. Die Buchverkäufe gehen zurück. Das Buch hat wieder einmal einen schweren Stand. Die Produktionskosten steigen, die Inflation macht es nicht leichter, der Preiskampf nimmt zu, kleinere Buchhandlungen kämpfen ums Überleben, bei der Kulturförderung wird gespart, dem Buch wird weniger Aufmerksamkeit geschenkt.
Und doch, wo ich auch hinschaue, Bücher scheinen standzuhalten, in den Buchhandlungen, Bibliotheken, Schulen, Pärken, überall treffe ich Menschen mit einem Buch in der Hand an.
Was würde meine Grossmutter sagen, wenn sie noch lebte? Ich kann mich nicht erinnern, dass sie Bücher las. Sie müsste aber zugeben, dass Bücher uns lebendig halten, denn, wie Franz Kafka einmal geschrieben hat, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.
Zur Person
Vincenzo Todisco, 1964 in Stans geboren, ist zweisprachiger Schriftsteller. Sein Roman «Das Eidechsenkind» (2018) war für den Schweizer Buchpreis nominiert. Sein neuer Roman «Der Geschichtenabnehmer» erscheint im August. Todiscos literarische Tätigkeit, die mit dem Bündner Anerkennungspreis geehrt wurde, ergänzt seine Arbeit als Professor und Fachdidaktiker an der Pädagogischen Hochschule Graubünden. Er lebt mit seiner Familie in Rhäzüns.