Vincenzo Todisco - «Es ist immer ein He imweh, sogar heute noch»
Vincenzo Todisco ist als Sohn italienischer Emigranten dreisprachig aufgewachsen. Die Themen Heimat, Identität und Migration begleiten ihn durch sein schriftstellerisches Werk.
Inhalt
Kulturtipp 03/2012
Babina Cathomen
Mit Fantasie stellte sich Vincenzo Todisco schon in seiner Kindheit der Welt: Durch die Erzählungen seiner Verwandten hat er von seinen italienischen Wurzeln erfahren. «Ich habe mir das Bild dazu zuerst mental konstruiert, bevor ich den Ort real kennen lernte», sagt der Schriftsteller bei einem Treffen in Chur. Der siebenfache Familienvater aus Rhäzüns lehrt hier an der Pädagogischen Hochschule unter anderem Didaktik der Mehrsprachigkeit. Auch bei den eigenen K...
Mit Fantasie stellte sich Vincenzo Todisco schon in seiner Kindheit der Welt: Durch die Erzählungen seiner Verwandten hat er von seinen italienischen Wurzeln erfahren. «Ich habe mir das Bild dazu zuerst mental konstruiert, bevor ich den Ort real kennen lernte», sagt der Schriftsteller bei einem Treffen in Chur. Der siebenfache Familienvater aus Rhäzüns lehrt hier an der Pädagogischen Hochschule unter anderem Didaktik der Mehrsprachigkeit. Auch bei den eigenen Kindern setzte er auf eine dreisprachige Erziehung und spricht von einer eigentlichen «Bündner Modellfamilie».
Er selbst ist mit den unterschiedlichen Dialekten seiner norditalienischen Mutter und seines süditalienischen Vaters in Luzern aufgewachsen. Nach dem Umzug ins Engadin kam das Rätoromanische dazu. Das Italienische nennt er seine «Bauchsprache», die mit Erinnerungen verbunden ist. «Es ist aber auch die Sprache der Distanz – und diese brauche ich, um meine Geschichten zu erzählen», sagt er.
Zwei Welten
Seinen vierten Roman «Rocco und Marittimo» hat Vincenzo Todisco in Italienisch geschrieben und ins Deutsche übersetzen lassen. Wenn er ihn selbst übersetzt hätte, wäre eine andere Geschichte entstanden: «Zwei Sprachen sind für mich zwei Welten, zwei verschiedene Arten zu erzählen.» Seine Protagonisten versetzt der Autor in eine Welt, die ihm selbst vertraut ist. Marittimo wird 1965 im so genannten «Zug der Hoffnung» geboren, der die süditalienischen Emigranten in die Schweiz bringt. Im ganzen Trubel wird er mit dem Neugeborenen Rocco vertauscht.
So wächst Marittimo bei seinen vermeintlichen Verwandten im Engadin auf, erlebt eine behütete Kindheit, aber auch Fremdenfeindlichkeit und die Vorurteile, welche die Einheimischen gegenüber den «Tschinggen» hegen. In der Schule trifft er auf Rocco. Der schüchterne Marittimo und der rebellische Rocco werden dicke Freunde – von ihren vertauschten Rollen ahnen sie nichts.
Tribut an orale Tradition
Erzählt wird die Geschichte Jahre später, als Rocco nach einem Unfall im Koma liegt. An sein Krankenbett kommen Freunde und Bekannte, die aus unterschiedlicher Perspektive die Vergangenheit aufrollen. «Für mich war die Geschichte wie ein Mosaik, zu dem jede erzählende Person einen Stein beiträgt», erklärt Todisco. «Und vor allem ist mein Roman ein Tribut an die orale Tradition, denn es ist ein Urbedürfnis des Menschen, Geschichten zu erzählen und erzählt zu bekommen.»
Für seine Recherchen hat Vincenzo Todisco sich nebst den schriftlichen Berichten und Fotografien auf mündliche Überlieferungen gestützt. Viel hat er von seinen Eltern erfahren, die Ende der 50er in die Schweiz eingewandert sind. Zudem ist er nach Apulien gereist. Dort hat er die Atmosphäre, die Landschaft, Bilder und die Berichte der Einheimischen auf sich einwirken lassen. Daraus entstanden ist der fiktive Ort Montecaldo. Er selbst habe ja keine direkten Migrationserfahrungen gemacht, sagt Todisco, aber er erinnere sich an bestimmte Situationen – etwa die Schwarzenbach-Initiative 1970, die für ihn als 6-Jährigen ein Schock war. «Mir war gar nicht bewusst, dass ich anders war, schliesslich sprach ich dieselbe Sprache wie meine Schulkameraden – und plötzlich merkte ich, was es heisst, Gastarbeiter zu sein und dass es anscheinend verschiedene Kategorien Menschen gab.»
Identitätssuche
Die Frage des Fremdseins, der Integration und Identitätssuche ziehen sich durch Todiscos Werk. Marittimo teilt die Welt in eine vertikale und eine horizontale Welt – der bergige Norden und der Süden mit dem unendlichen Horizont des Meers. Todisco ging es in seiner Kindheit ähnlich, als er am Meer die Berge vermisste – und kaum war er zurück, verspürte er die Sehnsucht nach der weiten Ebene des Meers. «Es ist immer ein Heimweh, sogar heute noch», sagt er, auch wenn er die zwei Identitäten inzwischen als Bereicherung sieht.
[Buch]
Vincenzo Todisco
Rocco und Marittimo
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
280 Seiten
(Rotpunktverlag 2011).
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