Klopft es an der Wohnungstür, hat das Kind nur Sekunden Zeit, um zu verschwinden. Kommt Carlos Mutter von unten und fragt nach Mehl, linst es keck aus seinem Versteck hervor. Poltert hingegen der Padrone in die Küche, Vaters Chef von der Baufirma, zittert das Kind hinter den Kleidern im Schrank. «Gut, hast du keine Kinder, Mafioso», sagt der Padrone jovial zum Vater. Und offiziell hat der Vater auch keine Kinder. Er ist während Jahren als Saisonier aus Italien hergependelt. Seit er verheiratet ist, hat er seine Frau dabei, die zur Arbeit in die Fabrik geht.
Nur unten am Meer scheint die Sonne
Das Kind der beiden lebt versteckt und illegal in der Wohnung. Denn das Kind gabs schon, als die Eltern noch unverheiratet waren. «Wenn der Padrone das erfährt oder die Fremdenpolizei», zischt der Vater, «müssen wir alle ins Gefängnis.» Die Familie lebt im Irgendwo der Deutschschweiz in den 1960er-Jahren. «Der Mann mit der Pfeife» (Ausländerfeind James Schwarzenbach) will sie und ihresgleichen ausschaffen. Der Padrone ist dagegen, immerhin sind sie «gschaffig», die «Tschinggen».
Erholung finden das Kind und seine Eltern in Ripa bei Nonna Assunta. Dort unten am Meer scheint die Sonne, lockt die Freiheit, das Kind kann draussen Fussball spielen. Doch in Ripa finden alle, das Kind bewege sich seltsam, die Nonna nennt es «lucertola», Eidechse.
Vincenzo Todisco ist selbst als Einwandererkind aufgewachsen. Geboren 1964 in Stans, lebt er heute als Schriftsteller und Dozent im bündnerischen Rhäzüns. «Das Eidechsenkind» ist sein erster Roman auf Deutsch. Er schildert ein packendes Schicksal aus jener Zeit, da man Arbeitskräfte rief und Menschen kamen, wie Max Frisch es formulierte. Todisco projiziert die emotionale Not dieser Menschen auf die körperliche Beengtheit des «Kindes». Dessen Schattendasein mag eine künstlerische Zuspitzung sein, auf wahren Begebenheiten wird es allemal beruhen.
Als es grösser wird, wagt sich das Kind ins Treppenhaus. Dort trifft es auf «Kuschdohära», den Pudel des Hauswarts. Später auf Emmy, den Professor und die Musikerin. Allen erklärt das Kind, welche Vorteile das Eidechsendasein mit sich bringe: Es könne geräuschlos fliehen und sich in engsten Ritzen verstecken. Alle raten dem heranwachsenden Kind: «Geh doch nach Italien zur Nonna.» Das Kind erwidert: «Ich kann nicht weg, niemals.» Bis allen klar wird: Das Kind ist krank.
Todisco erzählt seine bedrückende Geschichte in einfacher Sprache und kurzen Kapiteln. Das Buch liest sich in einem Zug. Es ist packend, stimmt in historischen Details, weckt Erinnerungsbilder an damals, als Italiener – ob Nachbarn oder Schulkameraden – noch exotisch waren und unheimlich. Und gerade deshalb geht das Schicksal des namenlos bleibenden Kindes und seiner Familie unter die Haut. Ein schrecklich gutes Buch, das in den Kanon der Schullektüre aufgenommen werden sollte.
Lesungen
Sa, 10.11., 11.00 Volkshaus Basel
Sa, 29.12., 17.45 Schulhaus Praden GR
Radio
So, 11.11., 12.00 SRF 2 Kultur
Do, 29.11., 11.05 Ö 1
Buch
Vincenzo Todisco
Das Eidechsenkind
216 Seiten
(Edition Blau im Rotpunkt Verlag 2018)